Die Apokalypse ist nicht das Ende der Welt. Marie-Christin Spitznagel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie-Christin Spitznagel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783740973711
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lehnte seinen Kopf gegen die Tür des Blitzschranks. Es war ja nicht so, dass er nicht verstehen würde, warum Michael so frustriert war. Es ging ihm ja genauso. Und wenn Michael in der Nähe war, musste er sich richtig zusammenreißen, dass dieser nicht merkte, dass er an demselben Überdruss litt. Sein Bruder hatte ja Recht. Was blieb ihnen denn groß übrig, außer manchmal – heimlich, damit es keiner merkt, dass sie es sind - in kleinen Schutzengeljobs ein paar Idioten vor sich selbst zu retten, um nicht vor Langeweile wahnsinnig zu werden? Gabriel war sich ziemlich sicher, dass sein Bruder dies auch tat. Ebenso heimlich, damit niemand merkte, dass er es war, der sich sonst so laut darüber lustig machte.

      Michael flüsterte: «Was bleibt uns denn übrig außer, heimlich, damit es keiner merkt, dass wir es sind, ein paar Idioten vor sich selbst zu retten und kleinere Schutzengeljobs zu übernehme, um nicht wahnsinnig zu werden?» Gabriel stockte kurz. Hatte er eben laut gedacht oder waren sein Bruder und er tatsächlich einer Meinung? Er räusperte sich und ging wieder zurück zum Sessel, um sich seinem Bruder gegenüber nieder zu setzen.

      «Die anderen Engel sind der neuen Marschrichtung mit Begeisterung gefolgt. Warum kannst du das nicht?»

      «Die folgen doch der Chefetage immer mit Begeisterung wie ein Haufen degenerierter Labradore.» Michael seufzte. «Aber die anderen Engel sind ja nicht das Hauptproblem! Die Menschen sind es. Sie halten sich für so einzigartig. Sie werden immer arroganter und dreister. Es ist erst wenige Jahrhunderte her, da haben sie sich ehrfürchtig, vor den Reliquien vermeintlicher Heiliger, in den Staub geworfen und ähnlich possierliche Dinge getan. Sie halten sich für schrecklich zivilisiert, weil sie verfaulte Dinosaurierreste als Energiequelle nutzen können.» Er rappelte sich hoch, sprang wieder aus dem Sessel und warf aufgebracht die Hände in die Luft. «Einige von ihnen sind paradoxerweise zudem davon überzeugt, dass es Dinosaurier nie gegeben hat. Ganze Gruppen glauben unbeirrt, während sie in riesigen, dinosaurierflüssigkeitsbetriebene

       Fortbewegungsmitteln unterwegs sind, dass es Dinosaurier nie gegeben hätte und Vater die Menschheit mit einem Fingerschnipsen - Puff- aus einem humanoid geformten Lehmklumpen zum Leben erweckt hat. Das sind die Allerschlimmsten! Die sind arrogant und noch dümmer als der Rest. Erinnerst du dich daran, wie Vater die Evolution in Gang gebracht hat. Wie wunderbar das gewesen ist? Wieviel Hoffnung er für diese Menschen hatte! Nun sieh, was sie machen. Und wir dürfen nicht mal eingreifen. Und Vater? Vater ist gegangen. Von wegen ‹kleiner Urlaub›. Der dauert schon 2000 Jahre, und wir sitzen hier fest.»

      Gabriel erinnerte sich genau an den Moment, an dem die Erde begann. Er hatte neben seinem Vater und all den anderen Göttern gestanden, als die Evolution ihren Anfang nahm, er hatte das Wunder der Weiterentwicklung vom ersten Einzeller miterleben dürfen. Immer wieder jagte ihm der Gedanke an diese erste, einfache Zeit voller Hoffnungen für diese junge Welt Schauer über den Rücken. Nachdem Gott die Engel geschaffen hatte, war er auf der Suche nach einer Herausforderung gewesen. Freier Wille. Engeln war er nur teilweise vergönnt. Die Erzengel waren in der Lage, auch selbst zu denken, anders als das gemeine Fußvolk. Trotzdem mussten sie in allem folgen, hatten keinen freien Willen. Das hatte Vater ausschließlich diesen haarlosen Affen zugestanden. Weil er sehen wollte, was sie damit machten, hatte er gesagt.

      Michael war seinerzeit damit beauftragt, die Plagen vorzusortieren, und war in dieser Aufgabe vollkommen aufgegangen. Er hatte sich keine Gedanken gemacht über die Entwicklung auf der Erde. Zwar wunderte er sich, was sein Vater mit den Plagen wollte, aber zu diesem Zeitpunkt war das Hinterfragen von Anweisungen noch nicht bei den Erzengeln angekommen. Gabriel erinnerte sich an die Unterhaltungen, die er mit ihm geführt hatte, als wären sie gestern gewesen. Seit Jahrhunderten regte dieser sich auf und schimpfte auf die Menschen. Der Ärger seines Bruders war für Gabriel auch immer nachvollziehbar gewesen, aber heute schwang zusätzlich etwas Anderes in seinen Worten mit. Etwas, das Gabriel einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Etwas Neues.

      «Gabriel», im Flüsterton riss Michael seinen Bruder aus den Gedanken.

      «Ja?», fragte Gabriel leise.

      «Mir ist langweilig!», Michaels Stimme war ein Flüstern. «Ich will nicht mehr hier festsitzen! Wie lange ist es her, dass ich eine Stadt verwüsten durfte, oder Feuer regnen lassen? Ich will einfach nicht mehr herum sitzen und nichts tun!»

      Gabriel nickte augenrollend und blickte aufwärts, als gäbe es einen weiteren Himmel über ihnen.

      «Michael», erwiderte er gebetsmühlenartig, während er sich Mühe gab, die zuckenden Lichter, die noch immer aus dem Blitzeschrank stoben, zu ignorieren, «Wir sind Diener Gottes. Uns ist nicht langweilig, und wir sitzen nicht herum und meckern. Wir sind weise, würdevoll und tun, was unser Vater uns gesagt hat, bevor er ging! Ohne zu mäkeln und ohne zu motzen.» Er machte eine kurze Pause. «Du weißt, was passiert, wenn einer von uns anfängt, mit derlei … derlei ... Sachen!», sagte er schließlich, als ihm das richtige Wort nicht einfallen wollte. Verweise auf ihren gefallenen Bruder Luzifer halfen immer, Michael in seine Schranken zu weisen. Diese beiden waren sich so unglaublich ähnlich. Lediglich war Luzifer dickköpfiger und impulsiver. Schließlich waren Luzifers Trotzanfälle legendär und hatten es in das Buch der Bücher geschafft.

      «Trotzdem. Ich will nicht mehr eingesperrt sein, Gabriel!», wiederholte Michael ganz leise, ohne seinen Bruder dabei anzusehen. «Wir hängen fest, ich habe sogar Hausarrest, nur weil ich ein einziges blödes Memo nicht gelesen habe…».

      «Ein blödes Memo? Du hast zwei komplette Städte ausgelöscht, Tausende Menschen verbrannt und das Meer überkochen lassen. Obwohl in dem Memo stand, dass wir ab der Geburt des Sohnes einen neuen Kurs einschlagen. Wir haben vier Propheten verschlissen, bis wir die Verweise darauf aus allen Geschichtsbüchern getilgt hatten!»

      «Ich habe das Memo auf meinem Schreibtisch nicht gesehen. Es lag unter dem Feuerschwerterkatalog!» Michael unterbrach Gabriel mit lauter Stimme. Etwas leiser fügte er hinzu: «Ich liebe Feuerschwerter.»

      Als Gabriel seinen Bruder ansah, konnte er dessen schmerzverzerrtes Gesicht sehen. Seine Wut verrauchte augenblicklich, er fühlte sich schlecht, dass er seinen kleinen Bruder so angefahren hatte. Schnell stand er auf, ging zu ihm hinüber und legte Michael beruhigend die Hand auf die Schulter. «Ist schon gut.»

      Michael schüttelte den Kopf. «Nein. Nein, Gabriel. Gar nichts ist gut. Vater ist weg, keiner weiß, wo er ist, wir sitzen hier fest, ohne echte Aufgabe. Der Sohn spielt Poker mit seinen Kumpels oder sitzt mit diesem fetten Kerl mit den großen Ohrlöchern seit Jahren unter einem Feigenbaum und meditiert. Neulich erzählte er stundenlang, dass er fast das Nirwana erreicht hätte! Er ist schon im Himmel, wozu braucht er ein Nirwana? Gabriel, es passiert nichts, und der Sohn, den wir anbeten sollen, ist ein verfluchter Hippie! Ich dreh‘ noch durch!»

      Gabriel fiel nichts ein, was er als Trost hätte sagen können. Er konnte seinen Bruder viel zu gut verstehen.

      «Ich wünschte auch, ich wüsste, wo er ist! Das wünschte ich wirklich. Er soll doch zurückkommen.» Mit diesen Worten lehnte Michael seinen Kopf an die Brust des Bruders, der ihm sanft über den Rücken strich. Trotz aller Streitereien, trotz ihrer Unterschiede, Michael war sein Lieblingsbruder und es brach ihm das Herz, ihn unglücklich zu sehen.

      «Ja, das wünschte ich auch», sagte Gabriel leise. «Aber du weißt, dass wir ihn nicht finden können, wenn er nicht gefunden werden will.»

      «Vielleicht sollten wir dafür sorgen, dass er zu uns kommt.»

      «Hm, das wäre natürlich super. Aber wie?»

      Michael machte eine Pause. Er wusste wie. Ihm wurde gesagt, wie. Im Moment musste er allerdings seinen Bruder davon überzeugen, dass sein Plan auch sinnvoll war. Der richtige Weg. Auch wenn es nicht sein eigener Plan war.

      7 Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt: Wer siegt, dem werde ich zu essen geben vom Baum des Lebens, der im Paradies Gottes steht.

       Die Offenbarung des Johannes 2.9

       4 Alex

      Es war ein kalter Sonntagnachmittag