Damals – sie hatte bereits ihr vierzigstes Jahr erreicht – war sie bei dem Herrn Sektionsrat im Unterrichtsministerium Slabatnigg im Dienst. Eines Sonntags im Juli, die Herrschaft war glücklicherweise ausgegangen, erschien ein ländlich gekleidetes Weib bei ihr, das einen zehnjährigen Jungen an der Hand führte. Sie erkannte nicht sofort die Witwe ihres jüngst verstorbenen Bruders Mojmir Linek. Kein Wunder, hatte sie doch diese Frau nur zweimal im Leben gesehen. Dem Bruder Mojmir wahrte Teta keine sehr achtungsvolle Erinnerung. Er war niemals über Hustopec hinausgekommen, hatte dort sicherem Vernehmen nach den ererbten Hof vertrunken und sich schließlich als gemiedener Ortsalkoholiker mit irgendwelcher Flickschusterei bis zum verdienten frühen Ende fortgebracht. Ohne Wohlwollen betrachtete die Tante den kleinen Neffen, der Mojmir hieß wie sein Vater und sie aus eigentümlich verschwollenen Schlitzaugen eindringlich abschätzte.
»Es ist ein Elend«, jammerte die Witwe, »mein Alter hat immer gewollt, daß aus dem Mojmir da was wird, ein Herr Doktor oder so, denn gescheit ist dir das Bübchen und zu gut fürs Land, und es war sein letzter Wunsch, der Arme, Gott verzeih ihm, und du bist doch die Schwester und ledig und hast gute Stellungen und Ersparnisse . . .«
»Woher weißt du, daß ich Ersparnisse hab’«, fuhr Teta auf. »Ich hab’ keine Ersparnisse, mit Erlaubnis . . .«
Die Mutter aber schob den Knaben vor, drückte mit der Hand sein bäurisch widerstrebendes Scheitelhaar nieder und nestelte erregt an seinem Feiertagsgewand herum:
»Schau dir doch nur das Bübchen an, Schwägerin, den Sohn deines einzigen Bruders . . . Was soll ich tun, daß der letzte Wunsch vom Seligen in Erfüllung geht . . . Der Herr Lehrer sagt, so einen wie den Mojmir da gibt’s in der ganzen Schul nicht zweimal . . . Er kann dir alles auswendig . . . Steh grad, Bub, und sag dem Tantchen etwas auf . . .«
Mojmir streckte sich, schnupfte den Rotz hoch, machte eine kurze Verbeugung und begann über Stock und Stein ein Gedicht herzuplärren mit seiner krähenden Knabenstimme, von der die erstaunte Küche des Hofrates Slabatnigg hell erschallte. Es war ein Gedicht des Dichters Neruda und hieß ›Die Mittagshexe‹. Er hatte noch kaum geendet, als ihn der zwinkernde Blick der Mutter mahnte, diesem Gedicht in Tetas schon halb vergessener Muttersprache ein zweites in bestem Deutsch folgen zu lassen. Darauf plärrte der Junge Schillers ›Alpenjäger‹ in entschlossenem Geschwindschritt her:
»Willst du nicht das Lämmlein hüten?
Lämmlein ist so gut und sanft.
Nährt sich von des Grases Blüten,
wachsend an des Baches Ranft.«
Nach dem schallenden Vortrag blickte er Mutter und Tante lohnheischend an wie ein Musikant, der jetzt mit dem Teller einsammeln gehn will. Teta aber gab kein Lobeswort von sich, sondern zog den Jungen zum Fenster, hob sein Kinn hoch und betrachtete sein sommersprossiges und inhaltloses Gesicht mit fragender Eindringlichkeit. War er wirklich so stürmisch und kühn wie der Knabe in dem Gedicht, der Gemsenjäger werden wollte und sonst nichts anderes? Die Mutter, durch diese Prüfung unruhig gemacht, zischte ihm etwas zu, und Mojmir leierte sofort folgenden eingelernten Satz herunter:
»Wenn das liebe Tantchen uns hilft, dann will ich auch recht brav sein und mich dem lieben Tantchen bis zum Lebensende stets dankbar erweisen.«
»Wie kann ich euch helfen«, brummte Teta, »ich bin arm wie ihr . . .«
Dann aber ging sie zum Herd, wärmte Kaffee auf, zog unter ihrem Bett einen beiseitegeschafften Guglhupf hervor und servierte ihren Gästen den Imbiß. Der kleine Mojmir entwickelte für sein Alter einen hochansehnlichen Appetit und bat dreimal um eine weitere Kuchenschnitte, wobei die beschämte Mutter Tränen in die Augen bekam und aufschluckte:
»Das muß ich sonst alles schaffen mit meiner Hände Arbeit, eine alleinstehende Witwe . . .«
Beim Abschied aber, nachdem sie sich die ganze Zeit über kühl und ziemlich unzugänglich verhalten hatte, sagte Teta plötzlich:
»Wegen dem Buben da werd ich mit der gnä’ Frau Hofrätin bittlich sprechen . . .«
Zuletzt holte sie eine Nickelmünze hervor und steckte sie dem Mojmir zu. Die Hand des Jungen schloß sich schnappend um das Geldstück wie der Rachen eines Raubfisches.
In Erfüllung ihres Versprechens trat Teta am nächsten Tage festlich gekleidet und mit ihrem umständlichsten Knicks in den Salon der Gebieterin. Diese neigte der Bitte ihrer Magd freundlich das Ohr und erwirkte bei ihrem Gemahl, dem Sektionsrat des Unterrichtsministeriums, daß der Linek Mojmir aus Hustopec einen Freiplatz am Gymnasium und Internat zu Olmütz erhielt. Während Teta nämlich im Lichte des Küchenfensters das sommersprossige und inhaltlose Knabengesicht betrachtet hatte, war in ihrer Seele der große, bisher nur undeutlich umträumte Lebensplan zu fester Gestalt gediehen.
Mit vierzig Jahren hatte Teta bereits dasselbe Altfrauengesicht wie später mit sechzig. Sie erfuhr demnach an sich selbst, wenn sie in den Spiegel schaute, die bedenkliche Kürze dieses Erdenlebens. Ein Tag folgte dem andern, zuerst in gemächlichem, dann in beschleunigtem Ablauf, und kein Tag unterschied sich vom andern. Es war immer dasselbe: Erwachen, Ankleiden, Morgenmesse, Feuermachen, Frühstückkochen, Aufräumen, Einkaufengehen, Mittagessen zubereiten, Geschirrwaschen, Tee oder Kaffee am Nachmittag, die verausgabten Summen zusammenrechnen, Abendessen richten, Geschirrwaschen, die Küche säubern, Schlafengehn. Teta beklagte sich keineswegs über diesen eintönigen Wandel. Sie arbeitete gern. Sie konnte nicht behaupten, daß dieses Leben für sie ein Jammertal war. Den meisten andern Weibern erging es weit schlimmer. Die hatten zu aller Plage noch Not und Tod im Haus, Lungerer oder Trunkenbolde oder Arbeitslose oder Kriegssoldaten oder verkommene Heimkehrer als Männer, Fehlgeburten, kranke Kinder, alle paar Jahre eine Leiche auf der Bahre und tagaus tagein nichts als Gefrett und Unglück. Wenn auch dergleichen Schreck und Schmerz Teta erspart blieb, so fühlte sie doch, daß ihr mit all diesen bösen Dingen zugleich etwas entging, was die unglückseligste Ehefrau im Umkreis besaß, mochte sie’s auch allstündlich verfluchen. Die Ungebundenheit, zu der sich Teta lebhaft bekannte, enthielt zweifellos neben dem Gleichmaß und der Sorglosigkeit ihrer Tage eine gewisse Ödigkeit, die sich zumeist an Sonn- und Feiertagen bemerkbar machte. Teta war daher Mitglied des Vereins katholischer Jungfrauen geworden, und das Ansehen, das sie sich unter ihren Bundesschwestern dort erwarb, bildete eine Milderung jener Öde und brachte in späteren Jahren manche Anfälligkeiten der früheren Zeit zum Verschwinden. Doch wie mans auch nimmt, das Leben war, was es ist. Vor allem wars aber gar nicht das eigentliche Leben, sondern nur eine sonderbare Unterbrechung, eine Art Ausflug oder Urlaub, in den man zu unbekanntem Zweck gesandt wurde. Das lehrten die geweihten Männer, die hoch über allen anderen Menschen standen und die es daher wissen mußten. Das eigentliche Leben begann nachher.
Für dieses wahre Leben nun galt es klug vorzusorgen, denn was bedeuteten siebzig immer kürzere Jahre gegen den dauernden und unkündbaren Posten, den der Mensch anzutreten hatte, wenn es so weit war? In die Ewigkeit nämlich konnte man vom Urlaub nicht ohne weiteres heimkehren, so, als sei nichts Wichtiges vorgefallen. Gewisse Hindernisse stellten sich dieser Heimkehr in den Weg. Die drei Aufenthaltsorte drüben standen der Wahl