Dann gibt es da die Geschichte von der samaritischen Frau (vgl. Johannes 4), dem einzigen Menschen in allen Evangelien, dem Jesus persönlich offenbarte, dass er der Messias sei. Vor den Augen anderer hatte er Wunder vollbracht und das Wort Gottes verkündet, aber nie hatte er jemand anderem offen gesagt, dass er der Messias sei. Den Herzen des Petrus und der Jünger hatte es der Vater offenbart, dass Jesus der Christus sei, der Gesalbte. Und diese samaritische Frau, die diese Offenbarung von Jesus selbst empfing, war nicht einmal Jüdin. Sie gehörte einer Gruppe an, die vom jüdischen Volk als Sekte betrachtet wurde, weil ihre Mitglieder sich von der jüdischen Tradition abgesetzt hatten. Zudem wurde diese Frau nicht nur von den Juden abgelehnt, sondern auch von ihrem eigenen Volk, und sie galt wegen ihrer Lebensweise als Außenseiterin: Sie hatte schon mit fünf verschiedenen Männern zusammengelebt, und der Mann, mit dem sie jetzt zusammen war, war nicht ihr Mann. Diese Frau aus Samaria war eine sehr verwundete, gebrochene Frau voller Schuldgefühle. Sie brachte es nicht fertig, sich auf eine feste Liebesbeziehung einzulassen, weil sie im Tiefsten nicht wusste, dass sie selbst geliebt wurde. Sie hatte vermutlich das Gefühl, dass Gott sie genauso verworfen habe, wie die anderen sie verworfen hatten.
An einer Stelle sagt diese verwundete, gebrochene Frau zu Jesus:
»Ich weiß, dass der Messias kommt, das ist der Gesalbte (Christus). Wenn er kommt, wird er uns alles verkünden.«
Jesus sagte zu ihr:
»Ich bin es, ich, der mit dir spricht.«
(Johannes 4,25–26)
Gottes Wege sind nicht unsere Wege; Gott wählt anders, als die Gesellschaft wählt: Gott wählt »die Armen, die Schwachen, die Bedürftigen«, diejenigen, die sich ihrer Armut bewusst sind – nicht nur einer materiellen Armut, sondern einer Unfähigkeit, mit dem Leben fertig zu werden, eines Gefühls der Ohnmacht und des Nichtwissens, was sie tun sollen. Eine Mutter, die gerade ein Kind verloren hat, ist »arm«. Eine Frau, deren Mann sie verlassen hat, ist »arm«. Ein Mann, der seine Arbeitsstelle verloren hat, ist »arm«. Das Mädchen, das erfährt, dass es Krebs hat, ist »arm«. Der Mensch, der spürt, dass sein Körper älter und schwächer wird, ist »arm«. Menschen, die vor schwierigen Familienproblemen stehen, sind »arm«.
Das Problem ist, dass wir uns weigern, unsere Schwächen, unsere Bedürfnisse, unsere Armut zuzugeben, weil wir Angst davor haben, abgelehnt zu werden. Uns ist beigebracht worden, wir müssten stark sein, »die Besten« sein, die Gewinner; nur dann könnten wir »jemand« sein. Da die Gesellschaft dazu neigt, die Schwachen an den Rand zu drängen, glauben wir, Schwachsein bedeute, abgelehnt zu werden. So versuchen wir unsere Armut zu verbergen, solange wir das können, und so zu tun, als seien wir stark; wir tun alles, um den Anschein aufrecht zu erhalten, dass wir alles im Griff hätten.
Wir müssen diese leise innere Stimme Gottes hören, die zu uns sagt: »Du hast es nicht nötig, dir und anderen etwas vorzumachen. Du brauchst deine Schwäche nicht zu verbergen. Du darfst du selbst sein. Ich habe dich nicht dazu in die Arche oder in eine andere Form der Gemeinschaft berufen, damit vor allem du den anderen hilfst oder damit du beweist, dass du großherzig oder tüchtig bist. Ich habe dich berufen, weil du arm bist, genau wie diejenigen, denen zu dienen du gekommen bist, und weil das Reich Gottes den Armen versprochen ist.«
Gott beruft jeden von uns. Es gibt viele Gründe dafür, weshalb wir zu einer Kirche oder einer Gruppe gehen, aber wir bleiben darin nur engagiert, falls uns aufgeht, dass wir dort sind, weil Gott uns dazu berufen hat. Wir werden ständig enttäuscht oder entmutigt sein, wenn wir in der Gemeinschaft der Schwachheit der Menschen und unserer eigenen Schwachheit begegnen, es sei denn, wir entdecken, dass wir aus dem Grund Mitglieder einer Gemeinschaft geworden sind, weil Gott uns dazu berufen hat, auf diese Weise zu dienen. Unser Dazugehören, unser Engagement ist eine Antwort auf einen Ruf seitens Gottes.
Das ist die Berufung der Claudias und Luisitos unserer Gemeinschaften, die im Herzen unseres Gemeinschaftslebens weilen; das ist die Berufung der Assistenten, die ganz in den Häusern mitleben; das ist die Berufung der Familien, Seelsorger und Mitglieder des Verwaltungsrats, die uns ihren Beistand leisten. Wie immer unsere Rolle in der Gemeinschaft aussehen mag, wir werden unseren Platz erst dann wirklich verstehen und Wurzeln fassen, wenn uns aufgeht, dass wir damit auf einen Ruf Jesu antworten, der uns auf einen geheimnisvollen Weg des Reifens in der Liebe und im Mitleiden einlädt.
Lasst uns Jesus bitten, er möge uns helfen, unsere Armut zu entdecken, vor ihr keine Angst zu haben und uns ihrer nicht zu schämen und uns unserer Berufung, unserer Sendung immer bewusster zu werden.
In der Treue verwurzelt
Gottes Ruf ist für jeden von uns anders und doch ist es immer der gleiche Ruf. Es ist ein Ruf, in der Liebe, in der Weisheit und in der inneren Freiheit zu wachsen und auf diese Weise stärkere Liebe, mehr Frieden und größere Freiheit in die Welt zu bringen. Haben wir erst einmal unsere Berufung erkannt und unseren Platz gefunden – was Zeit braucht –, dann müssen wir Wurzeln fassen und diesem Ruf treu bleiben.
Jeder Mensch hat beim Aufbau der Gemeinschaft seine besondere Rolle. Jeder muss sein Gefühl dafür, berufen zu sein, vertiefen. Es braucht Zeit, damit sich bestimmte Entscheidungen vertiefen, reifen und Frucht tragen können. Jeder Ruf ist einmalig, aber wir alle sind berufen, anderen Leben zu schenken und dieses Leben gemeinsam, als Gemeinschaft, zu schenken.
Im Markusevangelium wird uns die Geschichte von einem jungen Mann erzählt, der zu Jesus hinlief, vor ihm auf die Knie fiel und ihn fragte:
»Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?«
Jesus erzählte ihm von den Geboten Gottes, worauf der Mann erwiderte, diese habe er von Jugend an gehalten. Dann erzählt uns Markus weiter:
»Da sah ihn Jesus voll Liebe an.«
Stellt euch den Ausdruck in den Augen Jesu vor, als er diesen Mann liebevoll ansah. Hierauf sagte er:
»Eines fehlt dir noch: Geh, verkaufe, was du hast, gib das Geld den Armen, und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!«
(Markus 10,17–22)
Jesus sagte: »Komm und sei bei mir. Wir werden den Weg gemeinsam gehen; wir werden Freunde sein. Ich werde dich lehren, wie du mitten in einer Welt voller Gewalt und Ichsucht freundlich, gütig und liebevoll sein kannst. Ich werde dir zeigen, wie du ein Mensch des Friedens werden kannst, ein Mensch der Hoffnung. Fürchte dich nicht, ich werde dir zeigen, wie du leben kannst, damit dein ganzes Leben, dein ganzes Sein zum Zeichen der Frohen Botschaft wird.«
Markus erzählt uns, dass dieser junge Mann Angst bekam und sich von Jesus abwandte.
Wenn wir Gottes Ruf entdecken und ihn begrüßen, geschieht in uns etwas Wunderschönes: Wir erfahren Gottes Liebe zu uns und in uns eröffnet sich eine ganze neue Welt. Uns geht auch auf, dass das ein sehr anspruchsvoller Ruf ist. Wir werden dazu eingeladen, unsere frühere, vertraute Welt aufzugeben und alles loszulassen, was zu kennen und woran uns zu halten wir gewohnt waren. Dies alles bedeutet einen Verlust.
Wir empfangen etwas Neues, aber zugleich müssen wir etwas anderes loslassen. Wenn eine Frau zu dem Entschluss kommt, einen Mann zu heiraten, sagt sie zu Tausenden anderer Männer Nein! Wenn jemand zu einem langfristigen Engagement in der Arche berufen ist, bedeutet das, dass sie oder er ihre bisherige Lebensweise aufgeben muss, die Freiheit, ihren Tag so zu gestalten, wie sie will, den Umgang mit ihren Freunden usw.
Mit der Berufung sind untrennbar Trauer und Verlust verbunden. Wer den Ruf annehmen würde, aber nicht den Verlust, müsste in einem dauernden Widerspruch leben. Wenn man eine Entscheidung trifft – zum Beispiel die, in der Arche zu leben –, aber die Konsequenzen seiner Entscheidung nicht voll und ganz annimmt, führt das in starke Spannung und Erschöpfung. Man tut sich dann ständig selber leid, bedauert, dass man kein höheres Gehalt