Jesus gibt zur Antwort:
»Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen …«
(Johannes 14,9)
Wer Jesus sieht, sieht Gott. Wer Jesus anfasst, fasst Gott an. Als Maria das Jesuskind in ihren Armen trug, trug sie Gott in ihren Armen. Das ist die Torheit der Inkarnation, die Jesus sogar noch weiter treibt, wenn er sagt:
»Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.«
(Matthäus 25,40)
Wer einen Gefangenen besucht, einen Nackten bekleidet, einen Fremden aufnimmt, der besucht Gott, bekleidet Gott und nimmt Gott auf. Das ist ein großes Geheimnis!
Wenn wir dieses Geheimnis des Evangeliums erfassen wollen, müssen wir offen und aufmerksam sein. Wir müssen mit unserem ganzen Wesen hinhorchen. Was wir dann zu hören bekommen, übersteigt tatsächlich unser Fassungsvermögen, falls uns nicht der Heilige Geist hilft; der Einzige, der uns wirklich etwas lehren kann, der einzige, der jedes meiner Worte erhellen kann. Es ist der Heilige Geist, mit dessen Hilfe unsere Herzen geöffnet, berührt und genährt werden können.
So wichtig es sein mag, auf meine Worte zu hören, ist es doch noch viel wichtiger, genau auf das Wort Gottes zu achten, wie es sich in jedem und jeder von uns offenbart. Lasst uns sorgfältig auf die Botschaft des Evangeliums horchen, auf die Torheit der Botschaft Gottes und auf den Geist Jesu, der in jedem von uns wohnt.
Gott sprach durch die Worte des Propheten Hosea:
»Siehe, darum will ich sie verlocken. Ich will sie in die Wüste hinausführen und zärtlich zu ihrem Herzen sprechen.«
(Hosea 2,16)
Wir sind vielleicht nicht in der Wüste, aber wir sind alle aus unserem Alltagsleben und unseren üblichen Tätigkeiten hierher gekommen. Für manche von uns mag sich diese Besinnungszeit wie eine Art Wüstenaufenthalt anfühlen. Das ist ein Zeichen, dass Jesus uns ruft, uns führt, uns zieht, damit er zärtlich zu uns sprechen kann, von Herz zu Herz. Jesus spricht nicht nur zum Kopf, zum Verstand eines jeden von uns, sondern er spricht auch zu unserem Herzen, zu unserem tiefsten Selbst. So lasst uns voller Vertrauen unsere Herzen öffnen und alles empfangen, was er uns schenken möchte.
Der Prophet sprach weiter:
»Dann gebe ich ihr dort ihre Weinberge wieder …«,
was heißt: Ich will ihr zeigen, wie fruchtbar ihr Leben ist,
»und das Achor-Tal mache ich für sie zum Tor der Hoffnung.«
Ja, wir alle sind berufen, dass unser Leben viel Frucht bringt, denn Jesus möchte, dass wir anderen Leben schenken. Wir finden das schwierig: anderen Leben zu schenken, andere Menschen in ihrer Schwäche zu halten und zu tragen. Oft haben wir vor der Wirklichkeit Angst, denn die Wirklichkeit kann schmerzvoll und eine Quelle der Enttäuschung sein. Wir neigen dazu, in eine Welt voller Illusionen zu fliehen und unsere Zuflucht in Träumen zu suchen. Wir vergraben uns in Ideen und Theorien oder füllen unsere Tage mit Zerstreuungen aus.
Eine Umfrage in den USA ergab, dass die Menschen dort wöchentlich achtundzwanzig bis zweiunddreißig Stunden lang fernsehen! Der Fernsehschirm hat sich an die Stelle der Wirklichkeit gesetzt.
Wir laufen aus unserem »Achor-Tal« davon, dem Ort unserer größten und innersten Not. Aber Gott ruft uns auf, genau dorthin zu gehen, damit aus diesem Tal ein Tor der Hoffnung wird.
Das Achor-Tal lag in der Nähe von Jericho. Es war ein gefährliches Gelände voller Schlangen, Skorpione und aller möglichen wilden Tieren; die Leute hatten vor diesem Tal Angst und versuchten es zu meiden. Aber Gott erklärt, dass dieses Unglückstal zum Tor der Hoffnung werde. Was für ein Geheimnis: ein Geheimnis voller Hoffnung!
In jedem und jeder von uns gibt es ein »Achor-Tal«, denn wir alle kennen Ereignisse oder Verletzungen, an die wir uns nicht erinnern möchten, die wir nicht genauer ins Auge fassen und denen wir nicht mehr näher kommen wollen. Es gibt Menschen und Erfahrungen, die wir zu vermeiden versuchen, weil sie uns zu sehr wehtun und wir uns vor Schmerzen fürchten. Manche Menschen verwirren uns; sie sind »seltsam«, sind »anders«; wir können nicht ertragen, was sie leiden oder welches Leiden sie in uns auslösen. Aber Gott sagt zu uns: Wenn ihr an diese Orte des Leidens geht und euch aufgeschlossen diesen Menschen zuwendet, werden sie für euch zum »Tor der Hoffnung«. Wenn wir uns eng auf die Menschen einlassen, die unsere Gesellschaft nicht haben will, ausschließt und zerdrückt; auf die in Asyle weggesperrten Menschen; dann entdecken wir, dass sie zum »Tor der Hoffnung« werden können. Genauso ist es, wenn wir alles das, was wir in uns ablehnen, an uns herankommen lassen: unsere Blockaden, unsere Bitterkeit, unsere Ängste, all das, wofür wir uns vielleicht schämen. Wenn wir es wagen, mitten in unser inneres »Achor-Tal« vorzudringen, wird es tatsächlich für uns zum Tor der Hoffnung.
Aber das bringen wir nicht allein fertig. Wir müssen dabei Hand in Hand mit Jesus gehen, damit er uns führt und uns das Herz des Evangeliums offenbart.
Erster Tag
»Ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein«
(Lukas 19,5)
Gott beruft uns in die Welt der Liebe
Jesus blickt auf unsere Welt von heute, auf unsere riesigen Städte, auf unsere Länder mit allen ihren Spaltungen, ihrer Ungleichheit, ihrem Hass und ihrer Gewalttat und er weint.
Jesus kam in die Welt, um Frieden zu bringen, um alle Menschen zu einem einzigen Leib zusammenzufügen, in dem jeder Mensch seinen Platz hat. Aber wir Menschen haben aus unserer Welt eine Stätte voller Konkurrenzkampf, Wettbewerb, Rivalität, Konflikt und Krieg zwischen Rassen, Religionen, sozialen Klassen und Ländern gemacht. Die Welt ist zu einer Stätte geworden, an der alle das Gefühl haben, sie müssten sich schützen und verteidigen, auch ihre eigene Familie, ihr eigenes Land, ihre eigene Klasse, ihre eigene Religion. Nuklearwaffen, Raketen und Maschinengewehre sind die äußeren, sichtbaren Zeichen unserer inneren, unsichtbaren persönlichen Waffen. Diese holen wir vor, sobald wir uns bedroht, erniedrigt und abgelehnt fühlen oder wenn wir das Gefühl haben, man gebe uns nicht den uns zustehenden Raum; unseren Raum, auf den wir ein Recht haben. Gewalttätigkeit und Hass existieren heute genauso, wie es bereits im Buch Genesis beschrieben wurde:
Der Herr sah, dass auf der Erde die Schlechtigkeit des Menschen groß war …
(Genesis 6,5)
Die Erde war in Gottes Augen verdorben, sie war voller Gewalttat.
(Genesis 6,11)
Die gleiche Gewalttätigkeit und Schlechtigkeit erfüllt die Erde auch heute. Der gleiche Prozess von Hass und Spaltung wiederholt sich immer und immer wieder, Tag für Tag, Jahr um Jahr. Genährt wird er von der Angst und Verletzlichkeit des menschlichen Herzens. Denn wenn wir Menschen gewalttätig sind, dann hauptsächlich deshalb, weil wir so verletzlich sind. Gewalttätigkeit ist eine Reaktion auf ein verwundetes Herz, wenn dieses sich missverstanden, abgelehnt, ungeliebt fühlt. Sobald wir die leiseste Ablehnung spüren, reißt diese Wunde wieder auf und unsere Verteidigungsmechanismen kommen in Gang.
Ich entsinne mich an einen Besuch in einem Hochsicherheitsgefängnis in Kingston, Ontario. Ich erzählte dort den Häftlingen von den Menschen, die wir in die Arche aufgenommen hatten, von ihrem Leiden, ihrem Gefühl, gescheitert zu sein, abgelehnt zu werden; von ihrer Niedergeschlagenheit und zuweilen ihrer Selbstverstümmelung. Ich sprach von ihrer zerbrochenen Kindheit. Während ich diese Geschichten über unsere Leute in der Arche erzählte, wusste ich, dass ich ihnen in Wirklichkeit ihre eigene Geschichte erzählte, die Geschichte ihres Lebens, ihrer eigenen Erfahrungen damit, abgestoßen