Dr. Hesse kam in den Waschraum. „Alle Vorbereitungen getroffen, Herr Professor“, meldete er, „subkonjunktivale Injektionen vor fünf Minuten. Inzwischen volle Wirkung erzielt.“
„Puls?“ – „Zufriedenstellend.“
Professor Bergmeister schien den Bruchteil einer Sekunde zu zögern, dann sagte er: „Also … ich denke, wir können. Stirnlupe bitte, Schwester Gerda!“
Hintereinander traten sie in den OP.
Dr. Hilpert beugte sich über die Patientin, setzte den Lidsperrer ein, den Schwester Ethel ihm übergeben hatte. Das Auge der Patientin war jetzt weit geöffnet, ein Zwinkern oder Zucken war unmöglich. „Bitte, blicken Sie jetzt nach oben“, sagte er eindringlich, „noch höher, wenn es geht … ja, so! Danke!“
Das waren die letzten Worte, die bis zum Ende der Operation gesprochen werden sollten. Da die Patientin nur lokal betäubt, sonst aber bei, wenn auch gedämpftem, Bewußtsein war, wurde in völligem Schweigen gearbeitet. Professor Bergmeister, Doktor Hesse, Dr. Hilpert und Schwester Ethel waren eine eingespielte Mannschaft. Sie brauchten nicht mehr als einen Augenwink, eine winzige Bewegung, um sich untereinander zu verständigen. Alle arbeiteten, um sich die nötige Feinfühligkeit zu bewahren, mit bloßen Händen.
Schwester Gerda hatte Dr. Hilpert eine feine sterile Nadel mit einem Perlonfaden gereicht. Mit zwei, drei Stichen in die Bindehaut befestigte Dr. Hilpert den Faden und fixierte so das Auge.
Das Ende des Fadens behielt er während der ganzen Operation in der Hand.
Professor Bergmeister warf einen fragenden Blick zu dem Anästhesisten hinüber, der den Finger am Puls der Patientin hatte. Dr. Hesse nickte unmerklich.
Ein haarscharfes, sehr feines Skalpell in der Rechten, beugte sich der Professor über das jetzt bloßgelegte Auge der Patientin.
Ohne zu zögern, setzte er es an, zog einen feinen Schnitt durch die Bindehaut. Im selben Augenblick begann das Auge unvermutet stark zu bluten. Eine kleine Ader war getroffen worden.
Dr. Hilpert warf den Kopf herum und starrte den Anästhesisten an. War es möglich, daß er vergessen hatte, das bluthemmende Corbasil zu spritzen?
Aber Dr. Hesse stand ganz ruhig, zuckte kaum merklich die Schultern.
Ohne einen Wink des Professors abzuwarten, hatte Schwester Ethel ihm eine winzige silberne Klemme gereicht. Alle starrten gebannt auf die schmalen, beweglichen Hände des Professors, sahen aufatmend, wie er die durchschnittenen Enden der Ader fand, sie, eine nach der anderen, abklemmte. Dann band er beide Enden mit einem Faden ab, entfernte die Klemmen.
Der erste Schnitt lag jetzt offen und ohne Blutung frei.
Mit Bewunderung stellte Dr. Hilpert fest, wie behutsam Professor Bergmeister sich durch Orbitagewebe und Augenmuskeln bis zu der Stelle vorarbeitete, wo die Ablösung lag. Dann legte er die Skleralexzision an, nahm die Diathermienadel zur Hand, betätigte den Fußschalter. Er umstichelte den Riß von außen und hinten, riegelte ihn dadurch ab, so daß er nicht mehr weiterreißen konnte. Er vermied es dabei mit äußerster Vorsicht, die Netzhaut mit der Pinzette anzurühren, weil sie überaus empfindlich war. Er wußte, sie würde sich später von selbst wieder anlegen. Um ein gutes Anliegen der normalerweise lose aufliegenden Netzhaut zu erreichen, legte er rings um die Rißstelle winzige Stiche und damit Entzündungsherde an. Die Netzhaut sollte auf diese Weise mit der Unterlage verwachsen.
Auf einen Wink reichte ihm Schwester Ethel wieder das schmale Skalpell. Mit einem zweiten raschen Schnitt führte er eine sichelförmige Exzision der Sklera durch. Die Blutung war diesmal nur schwach und ließ rasch nach. Professor Bergmeister entfernte das herausgenommene Stückchen Lederhaut mit der Pinzette. Schwester Ethel reichte ihm eine sehr dünne Nadel, in die ein steriles Frauenhaar gefädelt war.
Mit zarten Stichen nähte er die beiden Schnittstellen der Lederhaut aneinander und erreichte so eine Bulbusverkürzung. Durch die Verkleinerung des Augapfels sollte die Spannung, der die Netzhaut ausgesetzt war, vermindert werden.
Er entfernte die Fäden, mit denen er das durchschnittene Äderchen abgebunden hatte, ohne daß eine stärkere Blutung auftrat.
Dann richtete er sich aufatmend hoch.
Die Stille, die während der letzten Minuten nur durch das Geräusch des Diathermieapparates unterbrochen worden war, schien plötzlich nicht mehr quälend. Die lastende Spannung löste sich
Alle wußten, die Operation war beendet.
Schweigend wandte Professor Bergmeister sich um und verließ den Operationsraum. Dr. Hilpert sah ihm sekundenlang nach: er schien noch gebeugter als sonst, eine schmale, von Verantwortung niedergedrückte Gestalt.
Dr. Hilpert wandte sich der Patientin zu, zog sanft, jede Zerrung vermeidend, den Faden aus der Bindehaut, mit der er das Auge in seiner unnatürlichen Stellung fixiert hatte, entfernte die Lidsperre.
Die Patientin murmelte etwas Unverständliches, zwinkerte ein wenig, schloß das Auge. Man hörte ihre tiefen Atemzüge.
„Sie ist eingeschlafen“, stellte Dr. Hesse fest, „der Puls ist zufriedenstellend.
„Ausgezeichnet!“ Dr. Hilpert wartete noch einen Augenblick, sah zu, wie Schwester Ethel das sterile Tuch vom Kopf der Patientin nahm. Gunhilds entspanntes, jetzt im Schlaf fast kindliches Gesicht kam zum Vorschein.
„Ich glaube, Sie können sie jetzt nach oben bringen“, sagte Doktor Hesse, „aber jemand muß bei ihr bleiben, bis sie aufwacht …“
„Aber selbstverständlich, Herr Doktor!“ sagte Schwester Ethel und gab sich keine Mühe zu verbergen, daß sie diese Anweisung, ihr, der erfahrenen Schwester gegenüber, für durchaus überflüssig hielt.
Dr. Hilpert trat in den Waschraum hinaus, wo Professor Bergmeister sich gerade von Schwester Gerda aus dem Operationskittel helfen ließ. Er wirkte sehr müde, nahm Brille mit Stirnlupe ab, strich sich mit der Hand über die Augen.
„Soviel ich weiß, haben Sie noch zwei Eingriffe heute morgen?“ fragte er.
„Ja, Herr Professor. Eine Splitterextraktion und ein Glaukom.“
„Ich hätte Sie gern gesprochen …”
Dr. Hilpert warf unwillkürlich einen Blick auf die große weiße Uhr, die in die Wandkacheln eingelassen war.
„Nicht jetzt“, sagte Professor Bergmeister rasch, „ich will Sie um Gottes willen nicht aufhalten …“
„Ich denke, ich werde nach elf Uhr fertig sein. Wenn es Ihnen recht ist …“
„Ja, bitte“, sagte Professor Bergmeister mit einem schwachen Lächeln, „ich erwarte Sie in meinem Arbeitsraum.“
Als Dr. Hilpert den Waschraum verließ, sah er die Mutter der Patientin und Gabriele Zerling beieinanderstehen. Frau Wigand war so blaß, daß das Rouge, das sie sich auf die Wangen gelegt hatte, sich hart gegen ihre blutlose Haut abzeichnete. Alle Tünche schien gleichsam von ihrem heute früh noch so sorgfältig zurechtgemachten Gesicht abgebröckelt zu sein.
Gabriele Zerling sah ihn sofort, sie hatte auf ihn gewartet. „Herr Doktor, bitte …“, sagte sie und machte einen Schritt zur Mitte des Ganges hin.
Er zog, seltsam berührt durch ihre unerwartet förmliche Anrede, die Augenbrauen hoch. „Ja …?“
„Herr Doktor, könnten Sie Frau Wigand bitte sagen, wie die Operation verlaufen ist? Sie macht sich solche Sorgen.“
Dr. Hilpert wandte sich der Mutter der Patientin zu und setzte ein Lächeln auf, von dem er selber spürte, daß es allzu berufsmäßig wirkte. „Aber dazu ist gar kein Grund vorhanden, gnädige Frau“, sagte er beruhigend.
Frau Wigand rang die mit kostbaren Ringen