Axel Rudolph
Der rote Hahn
Roman
Saga
Walter Münch kommt von Masnedsund her. Vor ihm liegen die roten Ziegeldächer von Vordingborg mit dem darüberwuchtenden Gemäuer des altehrwürdigen, runden und dicken Gänseturmes aus den Tagen König Waldemars, um ihn die blühenden Felder und satten Wiesen Seelands, hinter ihm der kleine Fischereihafen Masnedsund, in dem der Fischkutter „Baltasar“ liegt, mit dem rotnasigen, groben Skipper Hinrichsen an Bord.
Münch hat vor einer Stunde einen furchtbaren Krach mit diesem Skipper gehabt. Das heißt: Eigentlich ist immer Streit und Zank gewesen zwischen ihm und dem Alten, seitdem die „Baltasar“ hier in den dänischen Gewässern kreuzt. Heute aber war das Maß voll gewesen. Skipper Hinrichsen hat außer den Salzheringen, die er in Masnedsund gekauft hat, auch noch eine hübsche, runde Ladung Sprit an Bord nehmen wollen. Da hat Münch energisch aufgemuckt. „Ich fahr auf ’nem Fischkutter, Skipper, nicht auf ’nem Spritschmuggler! Verstanden?“ Und als der Alte saugrob geschimpft und erklärt hat, er verzichte darauf, einen so frechen und unbotmäßigen Maat an Bord zu haben, hat Walter Münch kurzerhand seinen kleinen Seesack über die Schulter geworfen und der „Baltasar“ den Rücken gedreht.
Rechts von der Straße blinkt durch grünen Buchenwald hindurch das blaue Wasser des Sundes. Halb versteckt hinter den Bäumen, lugen langgestreckte Gebäude, still zurückgezogen, von der Straße durch Wald und wohlgepflegte Gärten getrennt: die Landes-Irrenanstalt Oringe. Walter Münch sieht, wie eben ein Mann in dunkelblauen Tuchhosen und einer weißen Uniformjacke aus dem freundlichen Pförtnerhäuschen kommt und das grüne Gittertor öffnet. Ein Mädchen tritt auf die Straße hinaus.
Auch sie geht langsam in der Richtung auf Vordingborg zu, kaum zehn Schritt vor Walter Münch. In einer Minute kann er sie mit seinen weitausgreifenden Schritten überholen. Aber er tut es nicht. Er verlangsamt sogar sein Tempo. Das Gesicht des Mädchens kann er nicht sehen, aber ihre ganze Haltung drückt eine so tiefe Trauer und Niedergeschlagenheit aus, daß er ein Gefühl hat, als müsse er auf den Zehenspitzen an ihr vorbeischleichen. Die Hand, die eine kleine braune Reisetasche hält, hängt schlaff neben dem hellen Sommerkleid hernieder, der etwas vornübergebeugte Rücken zuckt in kurzen Zwischenräumen, die Füße machen kleine, unsichere Schritte.
Jetzt bleibt das Mädchen stehen, mitten auf der einsamen Allee; ein leises Schwanken geht durch ihren Körper. Walter Münch macht ein paar lange Schritte und rafft die Sprachkenntnisse zusammen, die er sich voriges Jahr erworben hat, als er auf der dänischen Brigg „Saltholm“ fuhr.
„Ist Ihnen nicht wohl, Fräulein?“
Aus einem traurigen, blassen Gesicht starren ihn ein Paar große, dunkle Augen einen Augenblick verständnislos an.
„Geben Sie mal Ihr Köfferchen her, Fräulein!“ Walter Münch löst sanft die Reisetasche aus der schlaffen Hand des Mädchens und weist mit dem Kinn nach der Stadt hin. „Ich glaube, wir haben denselben Weg.“
Das Mädchen antwortet nicht. Willenlos schreitet sie neben dem Manne her, der sich bemüht, seine langen Schritte ihrem Gang anzupassen. In ihren Ohren klingen immer noch die Worte, die vor wenigen Minuten der weißhaarige, gütige Chefarzt da drüben gesprochen hat: „Wir hatten ja Ihre neue Anschrift nicht, Fräulein Hvid. Die Benachrichtigung ging an die Landwirtschaftliche Hochschule in Kopenhagen, wo Sie früher waren. Glauben Sie mir, es war so das Beste für Ihre Frau Mutter. Gesund wäre sie leider nie geworden, und sie hat furchtbar gelitten.“
‚Sie hat furchtbar gelitten.‘ Nichts anderes ist in Ragna Hvids Bewußtsein zurückgeblieben, nichts von all den tröstenden, guten Worten, die der Chefarzt nachher noch zu ihr gesagt hat, nichts als dieser eine Satz.
„Meine Mutter ist in der Irrenanstalt gestorben,“ sagt sie ganz plötzlich laut mit einer spröden, trockenen Stimme. Walter Münch wirft einen mitleidigen Seitenblick auf das Mädchen und schweigt. Was soll man dieser traurigen, leiddunklen Stimme antworten? Zu schönen Sprüchen reicht sein bißchen Dänisch nicht, und was bedeuten auch alle gutgemeinten Worte einem solchen Fall. Münch ist erst vierundzwanzig, aber auch er weiß schon, wie es tut, wenn man seine Mutter verliert.
Stumm gehen sie nebeneinander her, Ragna Hvid ist dem Mann dankbar für sein ernstes Schweigen. Da ist die Ruine der alten Waldemarsburg, da die Algade mit ihrem provinzialen Leben, da der kleine Bahnhof. Und plötzlich packt Ragna Hvid eine jähe Angst vor dem Alleinsein auf der langen Fahrt nach Jütland, vor den neugierigen Blicken der Mitreisenden, den unvermeidlichen Fragen, vor allem aber vor dem Alleinsein mit ihren Gedanken. Kann man das aushalten, nach dieser Stunde ruhig, als sei nichts besonderes geschehen, in einem Abteil zu sitzen, zwischen schwatzenden, fremden Menschen, auf dem Fährschiff die leuchtenden Lichter sehen, das fröhliche Gedränge um den langen, hübsch gedeckten und mit Sommerblumen geschmückten Kaffeetisch in der Kajüte? Muß man nicht laut aufschreien? Oder irgend etwas tun, etwas Gewaltsames, Schreckliches, um sich Luft zu schaffen? Die Notbremse ziehen, die Scheiben einschlagen, zertrümmern, zerschellen? Damit die anderen es auch merken, daß das Leid an Bord ist?
„Wenn ich Ihnen sonst noch behilflich sein kann, Fräulein?“ sagt Walter Münch fragend, indem er das Köfferchen zurückgibt. Ragna Hvid schaut auf, zum ersten Male voll und mit Bewußtsein ihrem Begleiter ins Gesicht.
„Sie sind nicht hier aus Vordingborg, nicht wahr?“
„Nicht weit von hier, Fräulein. Bloß die Ostsee liegt dazwischen.“
Ragna merkt erst jetzt, daß der Mann das Dänische mit einem typisch deutschen Akzent ausspricht. Sie nickt verstehend.
„Ja, man hört es, daß Sie aus Deutschland sind.“
„Das freut mich.“ Walter Münch fühlt das Bedürfnis, das junge Mädchen etwas abzulenken von seinen schweren Gedanken. „Ich heiße Walter Münch. Bin eben erst da hinten in Masnedsund abgemustert. Konnte mich mit dem Skipper nicht vertragen. Na, und jetzt will ich mal so’n bißchen durch Dänemark tippeln und zusehen, wo ich Arbeit kriegen kann.“
„Auf einem Schiff?“
„ Muß nicht unbedingt sein. Hab sogar ziemlich die Nase voll von der christlichen Seefahrt. Ich bin nun mal kein Seemann, Fräulein. Hab nur so zugegriffen vor ein paar Jahren, weil ich nicht arbeitslos in Kiel herumliegen wollte. Eigentlich bin ich gelernter Maschinenschlosser. Und meine Eltern waren Bauern. Am liebsten möchte ich wieder aufs Land.“
Das Läutewerk neben dem Bahnhof schlägt an. Menschen drängen durch die Tür in die kleine Vorhalle. In fünf Minuten muß der Zug da sein und hält nur kurz hier in Vordingborg. Ragna Hvids Gesicht zuckt nervös. Während sie ihrem Begleiter die müde Hand zum Dank hinstreckt, fährt ihr der Gedanke durch den Kopf, daß es gut sein müßte, diesen Mann auf der langen Reise neben sich zu wissen, diesen Mann, der zu schweigen versteht, weder neugierige Fragen stellt, noch billige Trostworte gibt. Man wäre nicht allein und brauchte doch nicht zu reden, wenn man nicht will. Impulsiv sieht sie zu Walter Münch auf.
„Wenn Sie wirklich auf dem Lande arbeiten wollen, dann sollten Sie zu uns hinüberkommen nach Jütland. Vielleicht könnte ich Ihnen behilflich sein.“
Münch ist ein Mann, der gewohnt ist, rasche Entschlüsse zu fassen. Er denkt nicht lange nach. Einen bestimmten Plan für die nächst Zukunft hat er sowieso nicht. Es ist gleichgültig, ob er hier auf Seeland nach Arbeit sucht oder erst mal nach Jütland fährt und sich dort umsieht. Und das traurige Mädchen da gefällt ihm.
„Wenn Sie meinen, daß in Jütland was zu machen ist, Fräulein — ich kann’s ja versuchen. Nur ...“
„Ich will gern die Fahrkarte für Sie auslegen, wenn Sie vielleicht ...“
„Das lassen Sie man, Fräulein!“ Walter Münchs Tatze legt sich rasch auf die Hand, die unwillkürlich nach dem Täschchen gegriffen hat. „So abgebrannt bin ich nun nicht, daß ich meine Fahrkarte nicht selber bezahlen kann. Ich meinte nur: Ich kann Ihnen doch nicht auf der Reise lästig fallen. Sie wollen doch sicher jetzt allein sein.“
„Nein — nicht allein!“ stößt Ragna Hvid fast angstvoll hervor. „Aber wir müssen uns beeilen, wenn Sie wirklich mitfahren wollen. Der Zug ...“
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