Wir tranken schnell und erzählten uns harmlos lustige Geschichten, wie ich mich als Volkssturmmann durch die russischen Truppen durchgemogelt hatte, ein paar Schlosserwerkzeuge in der Hand und immer behauptend, ich müsse im nächsten Dorf etwas reparieren. Und sie erzählte von einer lustigen Bootsfahrt havelabwärts, bis auf eine der Havelinseln und dann die Elbe hinunter bis in die Nordsee. «Es war nicht immer traurig. Auch nicht während des Krieges. So ’ne Bootsfahrt zum Beispiel», sagte sie versonnen. Sie erzählte nicht, mit wem sie gefahren war. Aber ich wußte es, weil sie das Bild umgelegt hatte. Sie sprach dann plötzlich von einigen lustigen ‹Partys›, die sie mit einem jungen amerikanischen Captain besucht hatte.
«Ich denke, du gehst nie aus», sagte ich etwas angetrunken.
«Damals ja. Er war sehr verliebt. Robby hieß er. Er wollte mich durchaus heiraten. Jetzt ist er schon lange drüben. Ich hätte alles überstanden.»
«Na und? Wäre es nicht das Vernünftigste gewesen?»
«Ja. Ich wollte auch. Wir waren schon richtig verlobt. So mit Büttenkarten. Zu komisch, wenn die Leute ernsthaft noch so leben, als wäre nichts geschehen. Als interessiere so eine Verlobung irgendeinen Deubel.»
«Wer mit wem interessiert immer», sagte ich.
«Das einzig unsterbliche Thema. Und warum wurde es nichts? Mochtest du ihn nicht?» Sie trank ihren Schnaps hastig, schüttelte sich und goß neu ein. «Ob du ihn nicht mochtest?»
Sie sah mich erstaunt an, abwehrend. Dann sagte sie leise: «Doch. Aber es ging nicht. Ich konnte ja nicht fort.»
Ich verstand sie ganz genau. Was sollte man dazu sagen? «Und dann bist du nie mehr ausgegangen?»
«Nein. Wenn’s einem dann wieder einfällt.»
«Das verstehe ich nicht.»
«Ihr seid, glaube ich, auch ganz anders. Ihr trauert so’n Stück. Erst ganz dunkel. Dann mit ’nem weißen Streifen in der Haube wie die Witwen im zweiten Jahr und dann ist es überstanden.»
«Und ihr?»
Sie winkte ab. «Ach ... wir. Mal lustig, mal traurig. Ganz genau weiß man doch nicht, was man wirklich fühlt. Oder weißt du’s?»
«Ich denke doch. Meist weiß ich’s.»
«Aber nicht immer?»
«Nein, nicht immer.»
Sie nickte befriedigt. «Wir können ... ich kann lustig sein und unten traurig sein, traurig sein und unten lustig. Wenigstens früher. Jetzt ist es immer traurig und außen? Man kann so gerade durchschauen, daß man eben noch was von der Welt sieht ... wie ...» Sie wies auf die Perlhuhnfedern. «Wirklich nett, daß du mir die mitgebracht hast. Plötzlich ist mir so viel klar.»
«Hoffentlich mit weißen Pünktchen drin», sagte ich.
Sie hob die Schultern, sie sagte leise: «Je länger er liegt, um so mehr liegt er mir auf dem Herzen. Warum kann man sich nicht lieben, solange man lebt?»
Ich antwortete nicht. Aber sie bedrängte mich, daß ich etwas sagen sollte. «Wahrscheinlich gibt es eben solche Liebe gar nicht zwischen zwei Menschen, nur in einem Menschen. Wenn der andere ihn dabei nicht stören kann.»
Sie trank langsam ihren Schnaps, als hätte sie nicht zugehört, und hielt das leere Glas zwischen den Lippen. Dann sah ich, wie langsam eine dunkle Furche über ihr Gesicht ging. Sie errötete vor Furcht und Abwehr. «Nein, nein», flüsterte sie, «das wäre schrecklich. So ist es auch nicht. Es ist ganz anders. Aber so etwas versteht ihr ja nicht.»
«Dann belehre den Unwissenden», sagte ich etwas ärgerlich.
Sie stand auf, nahm das kleine Bildchen von Carlo und legte es auf den Tisch zwischen uns. Sie sagte: «Ich habe ihn damals genauso geliebt, damals, als er lebte. Es war nicht so wie bei euch.»
«Wie war es denn bei uns?» fragte ich etwas spitz.
«Wir lebten alle gleich, wir fühlten alle gleich. Wie?»
Sie spielte schon wieder mit den Perlhuhnfedern und legte sie wie einen Kranz zu Füßen des Bildes. Sie sagte: «Er log niemals ... Darin unterschied er sich von euch allen.»
«Na hör mal, ein geschickter Schreiber, der nicht lügt!»
Sie schüttelte unwillig den Kopf. Ich fühlte, es wurde ihr schwer weiterzusprechen. «Wie soll ich das sagen, damit du es verstehst? Er sagte nicht mehr, als er fühlte, nie.»
«Und wir? Wir schwätzten, bevor wir überhaupt fühlen. Das meinst du doch?»
Sie reichte mir versöhnlich lächelnd die Hand über den Tisch. «Ich gehörte auch zu den Schwätzern», sagte sie, «du weißt ja, wenn man lange genug sagt: ich liebe dich, dann glaubt man es schließlich. Bis ich ihn traf.»
«Und dann glaubtest du nicht mehr?»
«Ich war sehr verliebt», sagte sie, «und gegen die Verlogenheit. Und darum sagte ich ihm, wie verliebt ich sei. Aber er lachte mich aus. Nein, ich sagte ihm, daß ich ihn liebte. Und darum lachte er.» Sie schauderte zusammen. Der Regen schlug mit Sturmstößen gegen das Fenster. Die hölzerne Scheibe klapperte, und einzelne Tropfen sprühten bis zum Tisch. «Man kann es nicht ausdrücken», sagte sie, «erlaß es mir.»
«Nun mußt du schon zu Ende reden», sagte ich. Sie schwieg, und wir hörten dem Regen zu, saßen beide, das Gesicht dem Fenster zugewandt, der stürmischen Dunkelheit draußen, dem unsichtbaren Herbsthimmel über den Trümmern.
«Ist es denn falsch, wenn man auf das große Gefühl wartet?»
Ich schüttelte den Kopf. Ich sagte so etwa, daß die meisten Leute ihre Gefühle in kleiner Münze ausgeben und dabei bankrott machen. Sie schien nicht zugehört zu haben. Denn plötzlich sagte sie: «Es ist falsch. Carlo hat es mir gleich gesagt. Das große Gefühl steht nicht am Anfang. Kann es gar nicht.»
Sie machte eine Pause. Ich sollte wohl widersprechen. Man kann es ja auch genau umgekehrt sagen. Es ist eben verschieden. Manchmal gibt es große, überwältigende Gefühle im Anfang, und sie verflüchtigen sich nachher wie Äther. Das hinterläßt einen kalten, weißen Fleck auf der Seele. Aber ich hatte keine Lust, eine andere Gefühlstheorie aufzustellen oder aus meinen Erfahrungen zu sprechen, die ja doch nur meine Erfahrungen sind und nicht austauschbar. Gesine trank einen Schnaps. Dann sagte sie ganz kalt: «Ich habe mich eben geirrt. Man darf nicht warten. Carlo sagte immer: ‹Soviel ich lieben kann, liebe ich dich. Genügt dir das nicht, dann laß es.› Er lachte dabei. Er war nie ernst, wenn er von Gefühlen sprach. Die anderen ... dich kenne ich ja nicht so genau, aber zum Beispiel Robby ... die anderen sind immer furchtbar ernst. Als ob Liebe was Trauriges wäre. Kann man sich denn nicht lachend lieben?» «Hat das Carlo gesagt?»
Sie nickte. Ich hob sein Bild. Ich sagte: «Er hat das auch nicht geglaubt. Bestimmt nicht. Sieh dir die Schatten des Spottes auf seinem Gesicht an.»
Sie riß mir das Bild aus der Hand und warf die Perlhuhnfedern drauf.
Ich sagte hartnäckig: «So siehst du’s erst richtig, durch die durchsichtig schwarzen Federn.»
«Ihr wollt nur nicht, daß jemand anders fühlt, daß jemand richtig fühlt», sagte sie heftig.
«Der Regen hat aufgehört», sagte ich, «ich werde nun gehen.»
Sie nickte. Aber sie hatte mich nicht gehört. Ich wagte nicht, sie aus ihren Gedanken zu wecken. Sie sagte plötzlich: «Siehst du, das hat man davon. Aber Carlo ist auch schuld daran. Nein, er ist nicht schuld, meine Eltern sind schuld, mit all ihrem Kummer. Ich wollte ihnen nicht auch noch den Kummer über mich dazu geben. Ach nein ... ich bin schuld. Ich allein. Es ist nur gerecht, daß ich leben muß und muß es tragen.»
«Wenn du willst, geht auch das vorüber. Aber du willst nicht.»
Sie lächelte