Brunos Dankeschön. Uwe Heimowski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Uwe Heimowski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567393
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kurz darauf neu an. „Du musst ... dich aber ...“

      Wieder setzte seine Stimme aus. Ich sah, wie er sich quälte, wie er darum kämpfte, seine Scham zu überwinden, die ihn offensichtlich am Sprechen hinderte. Auch mir Mittzwanziger war es ein unendlich langer und schwerer Moment. Es tat mir leid, dass dieser lebenserfahrene Mann sich einem so viel Jüngeren gegenüber eine solche Blöße an Körper und Seele geben musste. Ich bot an, doch lieber zu gehen und ihn alleine zu lassen, aber Bruno schüttelte vehement den Kopf.

      „Jetzt bin ich hier, jetzt will ich auch sauber werden. Aber weißt du, ich ... ich habe mich seit ... über ... einem Jahr nicht mehr ...“ Er brachte seinen Satz nicht zu Ende. Ich nickte ihm zu, dass ich verstanden hatte, und nahm seine Hand. „Schon gut.“

      Wenig später saß Bruno im dampfenden Schaumbad. Zwanzig Minuten ließ er seine Haut in der Pflegelotion einweichen, dann machte ich mich an das schwierige Werk.

      Brunos Rücken zu waschen erwies sich nicht nur als überfällig, sondern auch als äußerst schmerzhaft. Schmutz und Schweiß waren in die Haut eingewachsen. Schultern und Rücken waren dunkelgrau geschuppt. Obwohl ich so behutsam wie möglich zu Werke ging, lösten sich unter dem sanften Druck des Schwammes zuerst einzelne Schuppen, dann größere Hautpartien, und schließlich begann es zu bluten. Ich musste aufhören.

      Auch beim Nägelschneiden musste Bruno die Zähne fest zusammenbeißen. Einige Zehennägel, auch sie waren ein Jahr lang nicht geschnitten worden, hatten sich beim Wachsen gedreht und ins Nagelbett gebohrt. Wieder floss Blut, doch hier blieb ich hartnäckig. Zwar zuckten die Füße immer wieder vor der Berührung weg, doch ich setzte die Schere solange neu an, bis alle Zehennägel gestutzt waren. Bruno war tapfer und überstand die gesamte Prozedur unter viel Stöhnen, doch mit wenigen Klagen.

      In unserer Kleiderkammer suchte ich etwas in seiner Größe. Er wählte einen grauen Anzug aus grober Wolle. Als er schließlich frisch gewaschen und sauber eingekleidet das Haus verließ, strahlten seine Augen mit Haut und Kleidung um die Wette. Das Bad schien bis in seine Seele hinein reinigende Wirkung gehabt zu haben.

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      Und jetzt standen wir hier, mitten in der Nacht, auf dem Bürgersteig der Talstraße, vor einer mehr als zwielichtigen Spelunke. Und Bruno fragte mich nach dem Preis einer Flasche Bier.

      Hatte er sich durch das Bad also doch derart ernedrigt gefühlt, dass er es mir jetzt zurückzahlen wollte? Nein, das war nicht seine Art. Außerdem hatte er danach gestrahlt wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum. Nein, das konnte einfach nicht aufgesetzt gewesen sein. Und wieso spielte dieses süffisante Lächeln um seinen Mund, wieso leuchtete es in seinen Augenwinkeln? Das sah alles andere als boshaft aus. Ich verstand nichts. Absolut nichts.

      „Nun sag schon.“ Brunos Frage klang ungeduldig, er zupfte mich am Ärmel. „Wieviel kostet hier ein Bier?“

      Ach ja, ich hatte noch gar nicht geantwortet; war zu sehr in mein fieberhaftes Nachdenken versunken gewesen. Ich studierte die Preisliste. „Fünf Mark.“

      Mechanisch gab ich Auskunft und ärgerte mich im selben Moment darüber, dass ich mir meine Antwort nicht verbissen hatte. „Sag mal, wenn du nach Süddeutschland telefonierst, wo deine Freundin wohnt, das ist doch ganz schön teuer, nicht wahr?“

      Bahnhof. Mehr verstand ich nicht. Einfach nur Bahnhof. Wie kommt der jetzt vom Bier auf meine Freundin? Was hat die Preisliste der Sun-Bar mit meiner Telefonrechnung zu tun? Ein Buch mit sieben Siegeln – als Mensch verkleidet – stand vor mir.

      „Das ist doch teuer, oder?“, bohrte Bruno.

      „Ja, das kann man wohl sagen. Ziemlich teuer!“, sagte ich gereizt.

      Mitleidvoll sah Bruno mich an.

      „Das kannst du dir von deinem niedrigen Taschengeld bei der Heilsarmee sicher nicht so oft leisten, oder?“

      Das Funkeln in seinen kleinen Augen, die mich jetzt noch fester fixierten und noch eindringlicher ansahen, hatte irgendwoher Nahrung bekommen und eine lodernde Stichflamme entfacht. Es flackerte als wildes helles Feuer in ihnen.

      „Nein“, sagte ich unsicher. „Nein, nicht so oft.“

      Bruno machte eine bedeutungsvolle Pause.

      „Nun, dann ist es wohl besser“, meinte er schließlich mit entschlossener Stimme, „du rufst sie an, als dass ich ein Bier trinke.“

      Blitzschnell fuhr seine rechte Hand ins Jackett und fischte etwas heraus. Die linke packte mich behände am Handgelenk und drehte meine Handfläche nach oben. So hurtig, dass er mich kaum berührte, legte er ein rundes hartes Etwas in meine geöffnete Hand und drückte sie zu. Einen Moment hielt er sie umschlossen. Ein flüchtiger Blick, ein Zwinkern und schon war Bruno auf dem Absatz umgekehrt und – schwupps – in der Atempause verschwunden.

      Ich blieb stehen, angestrahlt vom orangen Neonlicht der Sun-Bar. Sprachlos. Reglos. Mit wild pochendem Herzen, in der Hand ein Fünf-Mark-Stück.

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      Heinrich und die Sintflut

      Und die Sintflut war vierzig Tage auf Erden, und die Wasser wuchsen und hoben die Arche auf und trugen sie empor über die Erde. Und die Wasser nahmen überhand und wuchsen sehr auf Erden ...

      Heinrich lag auf seinem Bett, streckte die Arme und damit das Buch, das er in Händen hielt, von sich weg und tastete nach der vergilbten, zerknitterten Fotografie, auf der seine Mutter abgebildet war. Auf dem Kopfkissen wurden Heinrichs Finger fündig: Eine junge Frau, zwei schlaksige, flachsblonde Söhne neben sich. Er hatte es jahrelang im Portemonnaie mit sich getragen, das war dem Bild anzusehen. Jetzt diente es ihm als Lesezeichen. Er steckte das Bild in die Bibel, die er immer noch ausgestreckt in der anderen Hand hielt, und klappte sie geräuschvoll zu. Vorsichtig, fast zärtlich legte er das dicke Buch auf die Kommode.

      Heinrich rieb sich die Augen, reckte seine Glieder und gähnte einen lauten langgezogenen Seufzer. Steif erhob er sich vom Bett und stakste, ungelenk und o-beinig, unentschlossen durch das kleine Zimmer. Vor dem Waschbecken blieb er stehen, griff nach der Keramikschüssel, hielt sich daran fest und machte eine Kniebeuge. Dabei ließ er es bewenden. Er schlurfte zur Schlafstatt zurück und warf sich wieder auf die Bettdecke. Im Liegen griff er zum Tabaksbeutel, der neben der Bibel auf der Kommode lag. Er kramte nach den Blättchen, zog eines aus der flachen Packung heraus, schichtete gleichmäßig Halbschwarzen hinein, feuchtete das Papier mit der Zungenspitze an und klebte es sorgfältig zu. Mit einem Streichholz entflammte er die Selbstgedrehte. Zweimal sog er den Rauch tief in seine Lungen und blies ihn jeweils in kleinen Ringen und Wölkchen in Richtung Zimmerdecke. Dann legte er die Zigarette in den Aschenbecher, fegte mit dem Handrücken in kurzen schnellen Bewegungen die Tabakkrümel von seiner Brust und griff wieder zur Bibel.

      Heinrich wog das schwere Buch in seiner Hand und schmunzelte einen Augenblick über sich selbst, wobei er unbewusst den Kopf schüttelte. „Ich lese die Bibel!“, lachte er im Stillen. Er schlug sie auf. Das Lesezeichen-Foto steckte im ersten Buch Mose. Im siebten Kapitel, bei Vers siebzehn war er stehengeblieben.

      Es war nicht ganz grundlos, dass Heinrich über sich selbst schmunzelte. Vor zwei Tagen erst hatte er begonnen, die Bibel zu lesen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er dieses Buch in die Hand genommen. Mit siebenunddreißig Jahren. Es war überhaupt das erste „richtige“ Buch, das er las, seit er aus der Schule gekommen war. „Richtiges“, damit meinte Heinrich ein dickes, in Leinen gebundenes Buch. In den letzten Jahren hatte er sich damit begnügt, gelegentlich einen Groschenroman am Kiosk zu kaufen. Jerry Cotton war Heinrichs Favorit, auch Western mochte er. Doch selbst diese Heftchen las er selten, abends nach der schweren körperlichen Arbeit war er dazu meist zu müde. Und so blätterte er in der Mittagspause die BILD-Zeitung seines Arbeitskollegen durch, überflog die fettgedruckten Schlagzeilen. Das war‘s dann mit Lesen.

      Entsprechend schwer fiel ihm die ungewohnte Lektüre,