Als ich ihn kennenlernte, lag diese unrühmliche Zeit bereits einige Jahre zurück. Er selbst hatte mir davon erzählt, auch von der Veränderung. Es klang wie ein Märchen. Oder ein Wunder.
Bruno hatte, kurz nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde, einen lichten Moment gehabt und machte einen Alkoholentzug. Nicht seinen ersten, aber es wurde der letzte. Während der Kur fand er Kontakt zu einer betreuten Selbsthilfegruppe der christlichen Suchthilfeorganisation Blaues Kreuz. Er mochte die Leute dort und ging regelmäßig zur Gruppe. Das half ihm. Motiviert von den Gruppenstunden und Einzelgesprächen und auch von den Gebeten mit den Mitarbeitern, hatte er das Trinken lassen können.
Nun ging es Bruno so gut wie lange nicht. Zusammen mit einem Freund bewohnte er eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Er bezog eine niedrige, aber ausreichende Rente. Und er war Mitglied einer kleinen christlichen Gemeinde geworden. Ein Bekannter aus der Gruppe hatte ihn dorthin mitgenommen. Es ging recht familiär zu, jeder kannte jeden, und Bruno hatte sich schnell heimisch gefühlt. Besonders die älteren Damen, die sich in rührender Herzlichkeit um ihn kümmerten, trugen ihren Teil dazu bei.
Warum also fragte Bruno mich nach dem Bierpreis?
Gut, ich wusste, dass es immer wieder einmal Tage gab, an denen das alte Laster ihn packte und schüttelte und so lange nicht aus dem Würgegriff seiner teuflischen Klauen ließ, bis Bruno wieder zur Flasche gegriffen hatte. Aber diese Rückfälle waren selten. Außerdem waren sie plötzliche Attacken, die ihn nur dann überfielen, wenn er schutzlos in der Wüste seiner Einsamkeit steckenblieb – dann allerdings konnten sie mit Macht herangaloppieren. Tagsüber, wenn Bruno alleine und ohne Beschäftigung in seiner Wohnung saß. In Gesellschaft mit Freunden trank Bruno nicht.
Dass er jetzt ausgerechnet in die – alkoholfreie! – Atempause kam, um mich auf die Straße zu bitten und sich von mir den Bierpreis der Sun-Bar vorlesen zu lassen, das wollte nicht in meinen Kopf.
Wollte er mir eins auswischen? Vielleicht. Aber warum? In Windeseile gingen mir verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf. Wann hatte ich Bruno zuletzt getroffen? Konnte ich ihn dabei unbemerkt verletzt haben?
Bei Menschen mit solch einer Lebensgeschichte geschieht das nur allzu schnell. Manchmal bewerten sie kleinste Bemerkungen viel zu stark und reagieren dann übertrieben gekränkt. Wer einmal zu den Verachtetsten, zu den „Pennern“, zum „Abschaum der Gesellschaft“ gehörte, der vergisst das nicht so leicht. In seiner Seele bleibt er äußerst sensibel und verletzlich. Es ist, als ob eine innere Goldwaage alle Worte und Gesten und besonders die Zwischentöne eines Gegenübers genauestens abwöge und bereits beim geringsten Ungleichgewicht hochempfindlich reagierte. Diese besondere Empfindsamkeit übersieht man leicht.
Trotz angestrengten Überlegens fiel mir kein Fettnäpfchen ein, in das ich getreten sein könnte. Im Gegenteil. Unsere letzte Begegnung war eine ganz besondere gewesen ...
Wie gesagt, Brunos Leben war stabil geworden. Doch es gab einige – erstaunlich wenige – Nachwirkungen aus seiner Zeit „auf der Platte“. Platte, so nennen die Wohnungslosen ihre Schlafplätze. Platte „machen“ sie auf der Straße oder im Park oder unter der Brücke – wo immer einer ein geschütztes Plätzchen entdeckt, wenn es nur groß genug ist, dass er seinen Schlafsack entrollen und die obligatorische Plastiktüte, das tragbare Wohnzimmer, abstellen kann.
Sich selbst nennen sie Berber, nach jenem wandernden Nomadenvolk Nordafrikas, das noch bis vor wenigen Jahren in Ziegenfellzelten wohnte, ein karges Leben führte, Hauptnahrungsmittel: Datteln und Feigen, Käse von Ziegen- und Kamelmilch, und „nach der Sitte der Väter“ jahrhundertealte Bräuche pflegte. Wie die orientalischen Berber mit ihren Herden auf der Suche nach Wasser- und Weideplätzen, von Oase zu Oase durch die weiten Sanddünen der Sahara zogen, so durchstreifen die bundesdeutschen Berber heute die Beton- und Gefühlswüsten der Großstädte, auf der Suche nach Nahrung und Wohnung und Leben und – so kitschig es klingt – ein bisschen Liebe.
Eine der Nachwirkungen von Brunos Vergangenheit waren gelegentliche Rückfälle. Eine andere betraf seine Hygiene. Bruno duschte sich nicht und ging schon gar nicht in die Badewanne. So gut wie nie. Seine tägliche Körperpflege bestand aus nichts anderem als der schnellen Katzenwäsche der Kinderjahre: Hände meistens, Gesicht gelegentlich, Rest ... na ja. Dass es in der Wohnung weder Badewanne noch Dusche gab, sondern nur ein kleines Waschbecken von der Größe einer Nachttischschublade, war Bruno eine willkommene Ausrede.
Unter diesen Waschgewohnheiten litt seine Gesundheit. Er erkrankte immer häufiger an verschiedenen Infektionen. Da er von Ärzten nichts hielt – besser: weil er Angst vor ihnen hatte, was er freilich nie zugegeben hätte –, kurierte er seine Krankheiten mehr schlecht als recht zuhause aus. Ein hartnäckiger Reizhusten verließ den starken Raucher erst gar nicht mehr.
Vor einigen Wochen hatte sein Mitbewohner Brunos Elend nicht mehr länger mit ansehen können. Er wandte sich hilfesuchend an die Heilsarmee, wo er, wie Bruno auch, ein regelmäßiger Gast war. Ich war zufällig der erste, der ihm über den Weg lief, und den er über Brunos labilen Gesundheitszustand informierte. Prompt ließ ich mich dazu überreden, Bruno zu besuchen und zu einem Bad in unserer Badewanne zu bewegen. Nun war es an mir (und nicht mehr an seinem Mitbewohner, der klug genug war, einen anderen zu schicken ...), Bruno von den Vorzügen eines Vollbades zu überzeugen. Ein schwieriges Unterfangen, in das ich da eingewilligt hatte.
Ich besuchte Bruno in seiner Wohnung. Nach einigen Umwegen kam ich so behutsam wie möglich zur Sache. Bruno lenkte ab. Ich kam zurück zum Thema. Bruno wich aus. Ich versuchte ihn zu packen, Bruno entglitt. So ging es etwa eine halbe Stunde. Meine Überzeugungsarbeit schien vergebens. Auch all meine Überredungskunst, auf die ich sonst so stolz bin, versagte. Bruno sträubte sich gegen das Bad wie eine junge Katze gegen die Bürste. Ich redete mit Menschen- und Engelszungen auf ihn ein – ich hätte längst dem berühmten Fisch das Fahrrad oder einem Eskimo einen Kühlschrank verkauft gehabt. Bruno blieb eisern. Er ließ sich nicht im Namen der Vernunft und noch nicht einmal im Namen Gottes von der Dringlichkeit eines Vollbades überzeugen.
Ich war kurz davor, mein Unternehmen aufzugeben, bis ich endlich bemerkte, warum Bruno ein Bad so rigoros und kategorisch ablehnte. Ein Nebensatz ließ mich aufhorchen: „... kann doch nicht einfach zu euch in die Tagesstätte kommen.“
Ach so. Es war weniger Unlust, als vielmehr Scham, die hinter seinem Sträuben lag. Als ich ihm ganz vorsichtig sagte, er brauchte sich nicht zu schämen, er und ich wären ganz alleine im Haus, wenn er käme, niemand außer uns würde etwas mitbekommen und auch ich würde mich diskret zurückziehen, brach das Eis und bald stimmte er einem Bad zu. Er schien sich sogar ein bisschen darauf zu freuen.
Pünktlich zum verabredeten Termin erschien Bruno im Heilsarmeehaus. Das Wasser plätscherte aus dem großen Wasserhahn in die Wanne, Schaum schwamm darauf und das frische Aroma des Pflegebades erfüllte den Raum. Bruno begann, sich auszuziehen. Ich prüfte mit der Hand die Wassertemperatur, ließ noch etwas Kaltwasser nachlaufen und drehte den Hahn zu. Dann wollte ich das Badezimmer verlassen, damit Bruno in Ruhe sein Bad nehmen konnte.
„Bleib noch, bitte.“
Ich blieb. Bruno bat mich, ihm den Rücken zu waschen. Und ob ich ihm die Zehennägel schneiden könne, fragte er.
Er sah mich an. Vorsichtig abtastend. Unsicher. Einige stille Sekunden lang drehte er nervös sein Hemd in den Händen.
„Doch du ..., du ...“ Seine kratzige