»Tue ich auch nicht wirklich«, sagte der junge Mann. »Ist nur ein Zubrot. Eigentlich studiere ich Psychologie. Sechstes Semester.«
»Sind Sie dann nicht bald fertig?« fragte Krüger. »Den Abschluß als Bachelor erhält man doch schon nach drei Jahren, oder?«
»Eigentlich ja, aber wir Psychologen studieren deutlich langsamer. Schließlich müssen wir lernen, die Menschen ganz zu durchschauen.« Er warf Schneider einen durchdringenden Blick zu.
Was kam jetzt? Der jüngere der beiden Kommissare fühlte sich sichtlich unwohl.
Krüger, der das Mienenspiel seines Freundes verfolgt hatte, grinste. Geschah ihm ganz recht, daß er auch einmal in die Defensive geriet.
»Sie machen einen etwas frustrierten Eindruck«, sagte Schmükker. Mit dem Fuß schob er den Zigarillo Richtung Schneider. »Das Teil qualmt noch.«
Der Kommissar nahm dieses Mal den Absatz seines Schuhs zu Hilfe und trat etwas harscher als beabsichtigt auf den Rest der Glut.
»Beruflich frustriert?« Der Praktikant schüttelte den Kopf und beantwortete die Frage selber. »Glaube ich nicht. Dafür sind Sie viel zu neugierig.« Er zeigte auf den kleinen Block in Schneiders linker Hand, auf dem dieser sich Notizen gemacht hatte. »Wahrscheinlich eher privat.« Er überlegte. »Soll ich raten?«
Krüger kam seinem Freund zu Hilfe. »Das reicht jetzt aber. Wir sind ja hier, um einen Mordfall aufzuklären, und nicht, um bei Ihnen auf der Couch zu liegen. Also: Was können Sie uns denn zu Ihrem Chef sagen?«
»Zu Herrn Weyler?« Schmücker überlegte. »Ausgesprochen beliebt war er bei den Angestellten. Hat sich um den ganzen Laden gekümmert, war immer auf dem Laufenden, was ich so in der kurzen Zeit, seit ich hier bin, mitbekommen habe, Einkauf, Verkauf, Buchhaltung, Personal – was so anlag. Als er hörte, daß ich Student bin, hat er zwei Euro pro Stunde draufgelegt und gesagt, er habe als Student auch immer zu kämpfen gehabt, er wisse noch sehr gut, wie es ihm damals gegangen sei.«
»Ein altruistischer Unternehmer, interessant«, sagte Schneider. »Ich dachte immer, alle Kapitalisten seien egoistisch.«
»Nicht alle«, sagte Krüger versonnen. Ihm fiel wieder ein, was seine Mutter über einen Hamburger Unternehmer gesagt hatte, der sich vorbildlich um seine Angestellten gekümmert hatte. So’n netten Menschen war das.
»War er verheiratet?« unterbrach Schneider seine Gedanken.
Der Praktikant schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht. Er besaß jedenfalls keinen Ehering, den er auch trug. Und ob er eine Freundin hatte?«
Der junge Mann dachte wirklich mit; Krüger war angenehm überrascht. Bei der Polizei wurden auch Psychologen gebraucht – mal sehen.
»Ich glaube nicht«, antwortete Schmücker sich erneut selbst. »Außerdem habe ich hier nie eine Frau gesehen, der man ansah, daß sie sich für Herrn Weyler interessierte. Jedenfalls keine seines Alters. Natürlich haben sich einige Angestellte Hoffnungen gemacht …«
Der junge Mann beobachtete tatsächlich sehr genau, dachte Krüger; ich lasse ihn mal reden. Er nickte dem Praktikanten aufmunternd zu. »Jemand im Besonderen?«
»Frau Diepensiefen, die Buchhalterin, Anna Karenina, eine der Packerinnen, Frau Müller, die Sekretärin …«
»Das sind schon sechs«, sagte Schneider, während er sich Notizen machte.
Krüger grinste, denn er glaubte zu wissen, was nun kam.
»Nein, nein«, sagte Schmücker. »Drei. Das andere war nur die jeweilige Funktion im Betrieb.«
»Man nennt es Apposition«, sagte der sprachverliebte Kriminalhauptkommissar. »Etwas Hinzugesetztes beschreibt das Substantiv näher.«
»Hast du eigentlich keine Arbeit in der Duden-Redaktion gefunden und mußtest deswegen zur Polizei?« fragte Schneider etwas spitz. Irgendwann waret auch mal juut.
»Anna Karenina«, sagte Krüger versonnen. »Eine starke Frau.«
»Kaum«, sagte der Praktikant. »Eher ein graues Mäuschen. Und an ihrem Deutsch arbeitet sie noch.«
»Es ist immer besser«, fügte der Kommissar hinzu, noch ganz in Gedanken, »beim Original zu bleiben.«
Schmücker grinste. »Also, nochmal zu den Frauen. Ich glaube nicht, daß da jemals etwas Ernsthaftes gewesen ist. Vor allem, warum sollte eine der drei ihren Chef umbringen, der doch immer nett war?«
»Vielleicht«, sagte Schneider langsam, »hat er einer die Ehe versprochen und sich dann für eine andere entschieden.«
»Könnte sein«, sagte Krüger. »Eines der beiden klassischen Mordmotive. Eifersucht.«
»Und das andere?« Der Praktikant sah ihn neugierig an.
Von der Welt weiß er doch noch nicht so viel, dachte Krüger. »Geld«, sagte er. »Eigentlich geht es immer um Geld. Wenn ich die Eifersucht aber nochmal aufgreifen darf: Ehe bedeutet auch Absicherung, in vielen Fällen. Und die Aussicht darauf dann plötzlich zu verlieren … Wir behalten das mal im Auge.«
»Apropos Geld«, sagte Schmücker. »Davon hat Herr Weyler wirklich genug gehabt. Jede Menge.«
Bonn, April 2019. Hinnerk trat vor das französische Café und schaute die Einkaufsstraße entlang. Ein bißchen, aber nur ein ganz kleines bißchen sah es hier aus wie in Ottensen. Der Hamburger Stadtteil war in den letzten Jahren richtig hip geworden, mit Ausländern – beziehungsweise inzwischen längst Einheimischen –, die über Jahrzehnte die Rezepte ihrer heimatlichen Küche nicht verlernt hatten, mit alternativen kleinen Betrieben, die wieder alte Handwerkskünste beherrschten, und mit kleinen Restaurants, die bei warmem Wetter die Bewirtung auf den Bürgersteig verlagerten. Anders als im portugiesischen Viertel am Hafen war derlei südländische Lebensart in Ottensen noch nicht reglementiert – es gab keine vom Ordnungsamt gezogenen Linien, bis zu denen Tische und Stühle vor die Häuser gestellt werden konnten. Anarchie war sowieso besser, fand der Hüne. Und in der Bonner Friedrichstraße gab es ebenfalls Restaurants, deren Betrieb draußen stattfand, kleine Läden mit alternativem Handel, aber auch den üblichen Espressoshop und eine Eis-Manufaktur. Als ob nicht handgemachtes Eis sowieso am besten schmeckte. Zwei hübsche Studentinnen auf Fahrrädern umkurvten ihn, was Hinnerk zu spät anerkennend pfeifen ließ. Da waren sie nämlich längst außer Ruf- und Reichweite. Er sah auf die Uhr. Viertel vor zehn – Zeit, sein Ziel Ecke Quantiusstraße und Meckenheimer Allee, irgendwo hinter dem Bahnhof, in Ruhe zu erreichen. »Italienische Spezialitäten Contadino« würde sich nach seinem Besuch einen neuen Eigentümer suchen müssen. Wer nicht hören wollte, mußte fühlen. Jedenfalls ein letztes Mal.
»Wieso?« fragte Krüger. »Haben Sie das Geld gesehen?«
»Die Scheine gezählt?« sekundierte Schneider.
»Die Münzen gewogen?« fügte der Praktikant hinzu. »Oh, sorry, das ist mir so herausgerutscht. Ich soll ja antworten.«
Schneider grinste.
»Nein, habe ich nicht«, fuhr Schmücker fort. »Aber sein Vermögen war nicht zu übersehen: Ein Bugatti, mit dem Herr Weyler die paar Meter von seiner Villa an der Argelanderstraße bis zur Firma zurücklegte. Maßgeschneiderte Kleidung—«
»Woraus haben Sie das geschlossen?« unterbrach ihn Krüger.
»Hat mir Anna gesagt«, sagte Schmücker und wurde rot, als Schneider ihn fragend ansah. »Anna Karenina, die Packerin. Die weiß es wiederum von der Dame aus der Buchhaltung und die—«
»Hat die Belege sortiert«, sagte Schneider. »Ich kann es mir denken.«
»Was noch?« fragte Krüger.
»Ein