Hansen. Paul Schaffrath. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Schaffrath
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783870623272
Скачать книгу
und scrollte durch etwa zwanzig Fotos von der Leiche, der Halle und der Schaulustigen. Die Bilder waren von einer bemerkenswerten Qualität.

      Der Praktikant sah, wie der Kommissar anerkennend nickte, und sagte bescheiden: »Huawei.«

      »Gesundheit«, sagte Derenthal, der das Handy neidisch betrachtete.

      Roselski grinste.

      Zwei Männer von der Spurensicherung in weißen Ganzkörper-Overalls kamen in die Halle gelaufen. »Macht Platz. Weg da. Nicht so dicht an die Leiche. Ihr kontaminiert die gesamte Szenerie!«

      Zweistimmig klangen die Sätze sogar musikalisch, dachte Krüger. Gehorsam trat er zur Seite, um Altendorf und die Leute von der KTU ihre Arbeit machen zu lassen.

      Der Rechtsmediziner kniete sich hin und deutete auf das Einschußloch. Dann sagte er etwas zu den beiden Männern, die ihn überrascht ansahen. Einer der beiden holte aus dem mitgebrachten Koffer ein Vergrößerungsglas und reichte es Altendorf. Dieser wiederum hielt es über die linke Schläfe des Toten, angelte einen Kugelschreiber aus seiner Brusttasche und stellte augenscheinlich die Verlängerung des Schußkanals nach – aus dem Kopf der Leiche in die Luft davor. Fragend sah er auf.

      »Könnte sein«, sagte schließlich einer der beiden weißgekleideten Techniker.

      Altendorf erhob sich wieder und drehte sich dem Kommissar zu. »Sie haben zugesehen?«

      Krüger nickte. »Aber nichts verstanden.«

      »Lehrling und Meister«, sagte der Rechtsmediziner jovial. »Ich verstehe.« Er zwinkerte Krüger zu. »Wenn mich nicht alles täuscht, sind zwei Schüsse gefallen. Der zweite war so genau gezielt, daß er fast den gleichen Weg wie der erste genommen hat. Genaueres kann ich erst nach der Obduktion sagen. Sagen wir um drei?«

      Der Kommissar überlegte, ob er blaß werden sollte, entschied sich aber dagegen. Ihm würde bestimmt etwas einfallen, um seine Teilnahme an der Leichenöffnung zu umgehen. Die Nummer mit Schneiders rechtzeitigem Telefonanruf, um ihn zu einem dringenden Fall dazuzuholen, also von der Obduktion wegzurufen, funktionierte ja nicht mehr; Altendorf hatte ihn schon beim zweiten Mal durchschaut. Hoffentlich kam er auf einen neuen Ausweg. Es gab keine Hilfe – wie immer im Leben.

      »Ein Profi«, sagte Schneider, der so leise hinter Krüger getreten war, daß dieser zusammenfuhr.

      »Mann, mich so zu erschrecken«, sagte der Kriminalhauptkommissar und legte die Hand auf seine Brust, dorthin, wo er das Herz vermutete. »Du bist bloß Kriminalkommissar. Du darfst das Leben deines Vorgesetzten nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Mein Herz arbeitet nach Carmens Kaffee heute morgen zu Hause und dem Kaffeeduft hier ohnehin schon auf Hochtouren.«

      »Soll ich einen Stuhl holen?« fragte Altendorf. Sein Grinsen war nur noch als dreckig zu bezeichnen.

       Der Duft der weiten Welt

      Hamburg, März 1963. Claus Möller hatte die Nase gestrichen voll. Das war jetzt die zweite Abmahnung in dieser Woche gewesen, die ihm sein Vorgesetzter verpaßt hatte. Und dabei hatte er sich nichts zu Schulden kommen lassen; er war nur wieder zu spät zur Arbeit gelangt. Und erneut hatte es nicht an ihm gelegen: Die Werkshalle von Menck & Hambrock in Ottensen, in der er arbeitete, war fußläufig in gut zehn Minuten von der S-Bahn-Station Bahrenfeld zu erreichen. Wenn ihm allerdings die Bahn in Othmarschen, weil sie zu früh gekommen war, vor der Nase davonfuhr, war das nicht seine Schuld. Er hatte bei einem Freund übernachtet und den Weg zur Haltestelle unterschätzt. Claus war einundzwanzig Jahre alt und dachte, die Welt stünde ihm offen.

      Wütend hatte er auf dem Absatz kehrtgemacht und das Gelände der Maschinenfabrik verlassen. Etwas Besseres als den Tod fände er überall – und wenn er bei der Beseitigung der vielen Trümmergrundstücke half, die noch immer das Stadtbild prägten. Seiner Meinung nach machte der Hamburger Senat immerhin das Beste aus der Situation und verschaffte durch den Bau von Sozialwohnungen Tausenden der ausgebombten Familien ein vernünftiges Dach über dem Kopf. Seine Mutter und er hatten Glück gehabt – sie wohnten in einem der neuen Mehrfamilienhäuser aus den fünfziger Jahren am Bahrenfelder Kirchenweg. Er sammelte seine Gedanken und sah sich um.

      Nachdem er nur noch aus Ottensen weggewollt hatte und in die nächste Bahn eingestiegen war, war er inzwischen irgendwie am Hafen gelandet, seinem Lieblingsort in Hamburg, genauer gesagt: an der Speicherstadt. Schon am Baumwall konnte man in der Regel den frischen Wind genießen, und es roch nach Abenteuern. Von der Elbe wehte die vertraute Mischung zu ihm herüber: Motoröl und Brackwasser, der Rauch einiger kleinerer Dampfschiffe, außerdem Teer und Fischbrötchen. Er stutzte. Fischbrötchen? Dann mußte er lachen, weil ein älterer Mann an der Backsteinmauer vor dem kleinen Binnenhafen lehnte und herzhaft in sein Mittagessen biß. Eine hungrige Möve hatte sich mit etwa anderthalb Metern Abstand zu ihm auf der Mauer niedergelassen und verfolgte wehmütig, wie das Brötchen immer kleiner wurde. Als es ganz verschwunden war, breitete sie die Flügel aus und flog Richtung Landungsbrücken davon. Fast schien es Claus, als habe sie zuvor noch mißbilligend den Kopf geschüttelt.

      Ein Abenteuer, genau, das war es eigentlich. Einfach auf einem Schiff anheuern und nach Südamerika davonsegeln. Unter falscher Flagge sozusagen, denn seiner Mutter wollte er lieber nichts von seinen Sehnsüchten sagen und ihr schon gar nicht die Möglichkeit geben, ihn davon abzuhalten. Und dann darüber schreiben … Wie Gorch Fock, der die Jahre seines kurzen Lebens mit der Abfassung von Seefahrtsgeschichten verbracht hatte. Oder Lieder dichten … Musik war für Claus etwas, für das er viel zu wenig Zeit hatte. Aber wahrscheinlich hatte er für beides kein Talent. Seine Stimmung verdüsterte sich.

      Vielleicht blieb er besser zu Hause. Mutter hatte schon genug durchgemacht in ihrem Leben: zuerst Kriegsbraut, dann – auf einem der wenigen Heimaturlaube ihres Mannes, bevor er wieder nach Rußland zurückbeordert worden war – werdende Mutter und schließlich Kriegswitwe, als ihr Mann bei der Schlacht um Stalingrad ums Leben kam. Frau Möller hatte nie wieder geheiratet.

      Ohne es zu merken, stand der junge Mann inzwischen vor den hohen, aus braunen Backsteinen gemauerten Lagerhäusern auf Kehrwieder. Er war ein waschechter Hamburger und liebte die vielen sprechenden Namen der Stadt. Es war doch schön, sich auszumalen, wie in früheren Jahrhunderten – und heute wohl auch noch – die Matrosenliebchen an Kehrwieder den Seefahrern Glück und eine gute Heimkehr gewünscht hatten.

      Wie üblich herrschte rege Geschäftigkeit vor der langen Häuserzeile. Stückgut wurde an langen Seilen, die aus den Außenwinden am Dachfirst herausliefen, in die Höhe gezogen und verschwand im Inneren der Lagerräume. Einige der großen Kisten trugen einen Aufdruck in englischer Sprache, einige waren französisch beschriftet und wieder andere schienen spanisch zu sein; jedenfalls hielt Claus sie dafür. Vor einem Handelskontor wurden gerade Jutesäcke mit einem dicken Hanftau umschlungen und dann zusammen an dem Transportseil befestigt. Wahrscheinlich Bohnen oder Tee, die von den Quartiersleuten verstaut werden würden.

      Täuschte er sich oder bog gerade am Ende von Kehrwieder ein Pferdefuhrwerk auf die Brücke zum Sandtorkai? Claus war sich nicht sicher, da dieses alte Transportmittel allmählich aus der Stadt verschwand, aber es hatte schon sehr nach Hufen auf dem Kopfsteinpflaster geklungen.

      Der junge Mann legte den Kopf in den Nacken und sah an den Backsteinfassaden hoch. Er hatte sich schon immer für Hamburgische Geschichte interessiert und manches Mal gewünscht, den Bau der »neuen« Speicherstadt Ende des neunzehnten Jahrhunderts miterlebt zu haben. Man mußte sich das mal vorstellen: erst einen ganzen Stadtteil abzureißen, um ihn danach – hochmodern – neu zu errichten. Und das Ganze obendrein auf den Inseln in der Norderelbe. Das hatte natürlich den Vorteil, daß die Warenanlieferungen auf der Rückseite der Speicher von den Fleets aus erfolgen konnten; ein pfiffiger Gedanke, wie Claus fand: Wasserstraßen und Steinstraßen zur Beförderung der Güter.

      Die meisten Häuser der Speicherstadt umfaßten fünf Stockwerke und oft ein weiteres Geschoß unter dem Dach: die ersten beiden für die Kontorräume, darüber dann die Lageretagen. Und alles auf Pfählen