Julie geht zum Altenteil hinüber, um nach Helene zu sehen. Sie sitzt steif auf dem Sofa im Wohnzimmer; die Arme überkreuz um ihren Körper gelegt, unbeweglich wie eine Statue.
»Ist es sehr schlimm für dich?«, sagt Julie sanft.
Ein langer Seufzer durchzuckt Helene, doch sie nimmt sich gleich wieder zusammen.
»Ja, Julie. Mehr als das. Jetzt weiß ich erst einmal, was die Hölle ist.«
»Aber das ist doch nicht deine Schuld, Helene.«
»Nicht meine Schuld? O doch. Es sind meine eigenen Landsleute, die das machen. Mein Volk. Kannst du nicht verstehen, wie das für mich ist? Vielleicht kannst du es begreifen, wenn ich dir sage, dass das mein Krieg ist, mehr als deiner, mehr als eurer? Nein, man kann es nicht erklären, das muss man fühlen. Und wenn ich an die Zukunft denke, an meine und Ivars Zukunft, was soll daraus werden? Wie soll es angehen, danach in dieser Stadt zu wohnen? Ist es verwunderlich, dass ich Angst habe? Wenn ich doch nur ein Lebenszeichen von Ivar erhalten würde.«
»Ja, du hast nach allem, was zu hören war, um ihn sicher Angst.«
»Natürlich habe ich auch um ihn Angst, aber ich denke, Ivar wird sich über diese Tage retten. Jetzt wird er bestimmt alles tun, was er kann, um zu helfen. Aber danach, wenn das alles vorüber ist, was wird dann werden?«
Ihr Körper, ihr Gesicht, ihre Augen, die Hände, die sie in ihrem Schoß so fest zusammenballt, dass die Knöchel weiß werden, zeigen ihre innere Erregung. Doch ihre Stimme ist beherrscht, fast monoton, während sie erzählt, wie alles in diesem Winter gewesen ist.
Ernst zu werden begann es nach dem ersten September im vergangenen Jahr, diesem magischen Datum, als alles losging. Es fing ganz allmählich an. Freunde entschuldigten sich und lehnten dankend ab, wenn sie zu ihnen nach Hause eingeladen wurden. Freunde, die Ivars Ansichten nicht teilten, aber da Ivar nicht gerade das größte Interesse daran hatte, über Politik zu diskutieren, waren sie trotzdem eng befreundet. Nun erschienen nur die anderen, Parteifreunde. Viele der Klavier- und Ballettschülerinnen kamen nicht mehr zum Unterricht, schließlich blieben fast alle weg. Leute, die sie kannte, viele von ihnen zählte sie zu ihren Freunden, grüßten nicht, wenn sie sich auf der Straße begegneten, wichen ihrem Blick aus, wechselten die Straßenseite und gingen zum gegenüberliegenden Bürgersteig, wenn sie sie erblickten. O ja, sie hatte die Zeichen erkannt. Aber trotzdem hatte sie gedacht, dass sich das nach und nach wieder geben würde, wenn sie und Ivar sich nur anständig benähmen. Denn trotz allem war es jedoch nicht weiter schlimm, außer dass sie deutscher Herkunft war, woran man ja gar nichts ändern kann – und wenn sie eine noch so gute norwegische Staatsbürgerin ist. Und Ivar ist Mitglied in einer Partei, die bei vielen unbeliebt ist. So hatte sie gedacht und versucht, gegenüber den anderen sie selbst zu bleiben, wie sie das gegenüber den Menschen, mit denen sie zu tun hatte, immer war. Es ist nicht meine Schuld, hatte sie gedacht, es ist nicht meine Schuld, dass Hitler die Welt in einen neuen, großen Krieg stürzt. Doch ein Schock war es gewesen, denn sie hatte auch geglaubt, dass Hitler die Rettung für Deutschland wäre, aber nie hätte sie gedacht, dass es dadurch geschehen könnte, dass er andere Völker mit Gewalt unterwirft. Und nun, nach der Zerstörung der Stadt? Sie will zurück, will bei Ivar sein, gleichzeitig hat sie Angst davor, hätte nie gedacht, dass sie je eine solche Angst verspüren könnte, wie sie sie jetzt verspürt.
»Aber du kannst doch hier bleiben, solange du möchtest«, sagt Julie hilflos. »Hier bist du in Sicherheit.«
»So wie die Dinge liegen, ist es für euch nun nicht gerade ein Vergnügen, mich hier im Hause zu haben«, sagt Helene und kann die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
»Nein«, sagt Julie empört. »Nein, so etwas darfst du nicht sagen. Du weißt, dass du hier immer willkommen bist.«
Noch einen weiteren Abend steht eine Menschengruppe auf dem Kirchberg und verfolgt die schlimme Tragödie, die sich dort hinten im Westen abspielt. An die Stelle der bisherigen Ungläubigkeit ist eher eine von Mutlosigkeit geprägte Resignation getreten.
»Nein, ich kann da nicht länger hinsehen«, sagt Randi. »Wir gehen nach Hause, Julie!«
Wie oft haben sie im Verlauf der Jahre nicht so beieinander gesessen, sie und Randi. Nächtelange Gespräche bei einer Tasse Kaffee am Küchentisch. Meistens an Randis Küchentisch. So hatte es am besten gepasst. Randi hatte hier im Ort nie etwas zu tun, während Julie zwei-, dreimal im Jahr etwas in der Stadt zu besorgen hatte. Um einzukaufen, zum Zahnarzt zu gehen und um andere notwendige Dinge zu erledigen. Randi war nur wenige Male hier gewesen, aber erst als Julie und Jørgen den Hof übernommen hatten und die Schwiegereltern in das Altenteil gezogen waren, und auch dann war sie immer nur auf Kurzbesuche hier. Julie hatte gesehen, dass sie sich hier nie so richtig zurechtfand. Außerdem sei sie auch nicht der Typ, der aufs Land zu Besuch käme und die feine Dame aus der Stadt mimen könne, sagt sie. Doch es sind nicht wenige Sorgen und Freuden, die sie beide sich in langen Nächten am Küchentisch anvertraut haben.
Randi macht sich keine allzu großen Sorgen, dass Yngvar sich nicht durch die Ereignisse retten könnte, jedenfalls macht sie sich nicht mehr Sorgen, als unter diesen Umständen normal ist. Um Kari hat sie da schon mehr Angst. Sie ist so unbesonnen und ohne Furcht, glaubt, sie könnte fast alles in ihrer jugendlichen Art bewältigen. Sie hofft, dass es Yngvar gelingt, sie etwas zu bremsen. Nein, was ihr jetzt am meisten Sorgen bereite, ist, dass Yngvar nicht wisse, dass sie hier gelandet seien. Er denkt, sie seien in Richtung Molde gefahren, und wenn er erfährt, dass dort dieselbe Hölle ist, wird er es mit der Angst zu tun bekommen. Er wird auch nicht herausbekommen, welches Boot sie genommen haben. Es wimmelte dort von Schiffen, alles, vom Färinger Boot bis zu großen Kuttern. Das wird sie nie vergessen, wie Leute aus der Stadt, und nicht minder vom Lande, Boote bereitstellten und Flüchtlinge im Pendelverkehr aus der Stadt brachten.
Doch es hat nun mal keinen Sinn, sich Sorgen zu machen. Solange per Telefon und Telegraf kein Durchkommen ist, solange alle Verkehrsverbindungen unterbrochen sind, kann man nichts anderes tun, als nur warten.
»Und du, Julie, stell dir vor, du wirst bald wieder ein kleines Baby haben«, sagt Randi. »Das ist doch nicht schlecht, oder? Ich hätte selber auch gerne noch eins, doch wie es jetzt aussieht, ist wohl nicht daran zu denken. Außerdem bin ich inzwischen schon fast zu alt dafür.«
»Denkst du denn, es bereitet mir kein Kopfzerbrechen, dass ich in solchen Zeiten ein Kind in die Welt setze?«
»Doch, das kann ich mir schon denken. Ich habe mir die letzten Tage selber Sorgen gemacht, wie sich das, was wir durchgemacht haben, auf Martin auswirken wird, aber es hilft ja auch alles nichts, Julie. Und Kinder sind immer geboren worden, egal, wie die Welt ausgesehen hat. Mit den Großen ist es fast schlimmer. Wir wollen mal hoffen, dass das Ganze nicht so lange dauert, dass ihnen ihre Jugendzeit verdorben wird.«
Nicht nur Julie ist ehrgeizig, wenn es um die Zukunft der Kinder geht. Randi ist es genauso. Yngvar interessiert es zweifellos mehr, dass die Kinder wissen, welcher Klasse sie angehören und sich im Klassenkampf bewähren. Die drei Großen sind auch schon eifrige Sozialisten. Doch Yngvar war sich mit Randi immer darin einig, dass Bildung nichts schaden kann, auch wenn man der Arbeiterklasse angehört. Deshalb protestierte er erst gar nicht, als Randi sich dafür einsetzte, dass Hallvor auf das Gymnasium gehen sollte. Hallvor legte ein glänzendes Abitur ab, doch schließlich war sie es, die ihn dazu überredete, sich an der Technischen Hochschule zu bewerben. Sie war es auch, die Yngvar überreden konnte, obwohl er murrte, bei der Bank einen Kredit zur Finanzierung des Studiums aufzunehmen. Doch Hallvor ist sehr tüchtig. Er arbeitet so viel er kann nebenbei. Was allerdings am meisten in ihr bohrt, ist der Umstand, dass sie den größten Druck gemacht hat. Nach dem Abitur hatte der Junge eigentlich größere Lust, in einer Baufirma in der Stadt eine Lehre zu beginnen, als Zimmermann. Denn Hallvor ist ein heller Kopf, hat aber auch geschickte Hände, und am allerbesten gefalle es ihm, seine Hände