»Ah! Guten Abend!« sagte er in einem Tone, welcher darauf berechnet war, Vertrauen zu erwecken. »Was thun Sie hier, mein Fräulein? Wissen Sie nicht, daß es für junge Damen gefährlich ist, zu so später Zeit sich an solchen Orten zu bewegen?«
»Die Armuth kennt keine Gefahr, mein Herr,« antwortete sie. »Gute Nacht!«
Sie wendete sich ab, um sich zu entfernen; er aber legte die Hand an ihren Korb, so daß sie stehen bleiben mußte, und sagte in einem Tone, welcher sympathisch an ihr Ohr klang:
»Die Armuth. Ah, diese hat ein Recht gehört zu werden. Ich habe leider oft Gelegenheit, mit ihr zu verkehren. Mein Gott, wie frieren Sie! Ich glaube gar, Sie sind ausgegangen, um heimzutragen, was Andere weggeworfen haben!«
Sie senkte den Kopf und antwortete:
»Leider ist es so!«
Da nahm er ihr halb mit Gewalt den Korb aus der Hand, blickte und griff hinein und sagte dann mit gut gespieltem Entsetzen:
»Einige erfrorene Kartoffeln nebst verfaulten Äpfeln und einige Stückchen Holz! Ist das möglich! Was wollen Sie mit diesen Gegenständen beginnen?«
Sie fühlte sich tief beschämt. Aber er sprach so mild und eindringlich zu ihr; in seinem Tone lag eine so warme, menschenfreundliche Theilnahme, daß sie doch antwortete:
»Der Hunger thut weh, mein Herr, und wo die Krankheit ihren Einzug hält, da giebt es keine Wahl!«
»Hunger und Krankheit! Mein Himmel, da ist es ja Menschenpflicht, an Hilfe zu denken! Ich bin Arzt, Fräulein. Bitte, wollen Sie Vertrauen zu mir haben?«
Sie blickte zagend und fragend zu ihm empor. War es schwer oder leicht, einem fremden Manne, welcher ihr an diesem Orte und zu dieser Stunde begegnete, Vertrauen zu schenken? Die Noth und die Sorge gaben ihr nicht die Erlaubniß der Wahl; sie antwortete:
»Sie sind Arzt? Ja, Ärzte pflegen über die Armuth anders zu denken als andere Menschen. Man trägt das Unglück gern und möglichst lange Zeit im Stillen; aber wenn es zu schwer wird, dann ist es Sünde, die Hilfe, welche so freundlich angeboten wird, zurückzuweisen. Ich bin Näherin, mein Herr, kann aber seit einiger Zeit kaum mehr arbeiten, weil ich meine Augen zu sehr angestrengt habe.«
»Haben Sie Verwandte?«
»Einen Vater und einen Bruder. Der Letztere ist schwachsinnig und kann nichts verdienen, und der Erstere – – mein Gott!«
Sie hielt inne, um sich mit dem dünnen Tuche, welches sie um sich geschlagen hatte, nach den Augen zu fahren.
»Schmerzen Ihre Augen?« fragte der Baron.
»Sehr! Sie können die Kälte nicht vertragen, und daheim haben wir so lange Zeit nicht mehr geheizt.«
»Warum wenden Sie sich nicht an Ihre Nebenmenschen?«
»O, grad die Menschen, welche neben Einem wohnen, sind Einem so sehr fremd und fern!«
»Oder an die Armenbehörde!«
»Vater wollte noch immer nicht!«
»Warum nicht. An der Spitze dieser Behörde steht ein höchst menschenfreundlicher Herr, der Baron von Helfenstein.«
»Grad vor ihm hat man uns gewarnt. Vor ihm und dem Vorsteher Seidelmann, welcher die rechte Hand des Barons ist.«
»Das begreife ich nicht. Was ist Ihr Vater?«
»Früher war er Wachtmeister der hiesigen Gefangenenanstalt. Er hatte einst das Unglück, daß ihm ein Doppelmörder entsprang, den er nach dem Zuchthause zu transportiren hatte, und darum wurde er entlassen. Er erhielt eine kleine Anstellung bei der Bahn – –«
»Ein Doppelmörder?« fiel der Baron ein. »Wissen Sie vielleicht den Namen desselben?«
»Er wird mir unvergeßlich sein. Ich war damals nur ein kleines Mädchen; aber von da an begann das Unglück. Das vergißt man nicht. Der Flüchtling war ein Försterssohn Namens Gustav Brandt; er hatte den Baron von Helfenstein und den Hauptmann von Hellenbach ermordet.«
»Ah! So! Ah! Also Ihr Vater wurde dann bei der Bahn angestellt. Was geschah weiter?«
»Das Unglück brach noch größer über uns herein als vorher. Mein Vater wurde überfahren; er verlor ein Bein und eine Hand. Ein Gesetz für Haftpflicht gab es nicht. Man gewährte ihm freie ärztliche Behandlung und dann wies man ihn fort. Seit jener Zeit wohnen wir hier auf der Wasserstraße.«
Warum erzählte dieses trotz ihres Elendes noch immer bildhübsche Mädchen dem fremden Manne Alles so bereitwillig? Sie hatte einsam, schmerz- und entbehrungsreiche Jahre zu durchleben gehabt. Vielleicht war die gegenwärtige Stunde die erste, in welcher ein Mensch sich theilnehmend zu bekümmern schien. Da findet selbst das verschlossenste Herz ein Wort, um sich zu erleichtern.
Der Baron legte ihr, wie gerührt, die Hand auf den Arm. Er fühlte, daß derselbe zwar schlank aber immerhin voll genug sei, um für schön zu gelten. Er sagte:
»Das ist allerdings viel Unglück und Herzeleid! Vielleicht führt mich das Schicksal mit Ihnen zusammen, um einen Lichtblick in Ihr armes Leben zu senden. Sie haben kein Licht, keine Heizung, kein Essen und Trinken zu Hause?«
»So ist es,« seufzte sie.
»So kommen Sie mit mir! Ich führe Sie zu meiner Frau, welche Ihnen Alles geben soll, was Sie brauchen. Morgen am Tage dann besuche ich Ihren Vater, und dann wird sich ja wohl auch finden, ob etwas zur Heilung Ihrer Augen gethan werden kann.«
»Mein Gott! Ist das wahr, was ich höre? Das ist Hilfe in der Noth, in der allerhöchsten Noth! Und doch weiß ich nicht, ob ich es wirklich wagen darf, mit Ihnen zu gehen.«
»Warum nicht? Mißtrauen Sie mir?«
»O nein, nein! Aber besitzt Ihre Frau Gemahlin dieselbe Theilnahme, welche Ihnen für das Unglück von Gott in das Herz gelegt wurde?«
»Gewiß, gewiß! Sie können getrost mitkommen. Meine Frau wird sich freuen, Ihnen zu beweisen, daß es noch Herzen für die Armuth und das Unglück giebt. Kommen Sie!«
»Sie edler Mann! Ja, ja, ich werde Ihnen folgen! Mein armer Vater wird heute essen können und eine warme Stube haben!«
Sie verließen mit einander den Platz.
Der Fürst von Befour hatte ein jedes ihrer Worte vernommen. Er kannte den verkleideten Baron nicht; aber er fühlte eine Art von Mißtrauen gegen den Mann, dem die Unglückliche gefolgt war, und beschloß, ihnen nachzugehen.
»In Armuth und Elend gestürzt durch Gustav Brandt?« flüsterte er. »Da ist es Pflicht des Fürsten des Elendes, einzugreifen und nach Kräften gutzumachen.«
Er folgte ihnen in der Weise, daß er sie nicht aus dem Auge verlor, dem Baron aber auch nicht auffällig werden konnte.
Dieser Letztere schritt durch eine Seitengasse, bis er eine breite, vornehme Straße erreichte. In dem Parterre des ihnen gegenüber stehenden Hauses befand sich eine der feinsten Restaurationen der Residenz. Hier war das Casino des Barons. Er schritt mit seiner Begleiterin durch den Flur und zur Treppe hinauf nach dem Zimmer, in welchem er stets zu sitzen pflegte. Es stand offen und war leer.
»Setzen Sie Ihren Korb ab, mein Fräulein,« sagte er. »Meine Frau ist ausgegangen, wird aber baldigst wiederkommen. Unterdessen mag der Diener etwas zu essen bringen.«
Das Zimmer war klein. Zwei Gasflammen erleuchteten es so hell, daß das Mädchen sich geblendet fühlte. Sie setzte den Korb ab, hob die matten, kranken Augen in einer Anwandlung augenblicklichen Mißtrauens zu ihm auf und fragte:
»War nicht im Parterre eine Restauration, mein Herr?«
»Allerdings, mein Fräulein.«
»Und jetzt befinden wir uns ganz gewiß in Ihrer Privatwohnung?«
»Ja; nicht anders.«
»Sie sprachen von einem