»Ich muss dir etwas sagen, Mama.« Caspars Stimme klang unheilverkündend.
Sie lachte unsicher.
»Lass mich raten: Du hast einen prähistorischen Buddha am Strand gefunden und ihn hergeschmuggelt?«, versuchte sie zu scherzen.
Genervt verdrehte Caspar die Augen.
»Kannst du bitte mal ernst bleiben?«
Leonie umklammerte das Lenkrad und starrte angestrengt geradeaus.
»Also gut. Was ist passiert?«
»Ich werde Herrn von Steins Stelle nicht antreten.«
Vor Schreck stieg Leonie Jürgens auf die Bremse. Der Wagen hinter ihr konnte in letzter Sekunde ausweichen. Quietschende Bremsen und das folgende Hupkonzert lenkten Mutter und Sohn von ihrem Gespräch ab. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich beruhigt hatten.
»Das war knapp! Willst du uns alle beide umbringen?«, fragte Caspar endlich vorwurfsvoll. Die überstandene Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Das finde ich dann doch übertrieben.«
»Ich hoffe für dich, dass ich mich vorhin verhört habe.«
Diesmal war es Caspar, der angestrengt durch die Windschutzscheibe starrte.
»Und was, wenn nicht?«
Leonie Jürgens war besonnen genug, um nicht noch einmal eine Vollbremsung hinzulegen.
»Was soll das heißen?«, fragte sie scharf und schaltete in den fünften Gang, um auf der linken Spur zu überholen. Wie ein Geschoss raste der Wagen über die Autobahn. Früher hatte Caspar gekreischt vor Freude und Aufregung. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Seine Träume waren nicht mehr dieselben.
»Das heißt, dass ich meine Pläne geändert habe.« Er wagte es nicht, zu seiner Mutter hinüberzusehen.
Leonie schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad.
»Ich wusste doch, dass dich diese Reise nur auf dumme Ideen bringt.«
»Das sehe ich anders. Diese Reise hat mir vielmehr die Augen für den geöffnet, was wirklich wichtig ist im Leben. Luxuriöse Hotels mit Whirlpool auf dem Zimmer und Champagner in der Minibar gehören definitiv nicht dazu.«
Allmählich ging Leonie auf, dass ihr Sohn es ernst meinte.
»Darf ich dich daran erinnern, dass du immer vorhattest, den Betrieb in München zu übernehmen? Dafür hast du studiert.« Unwillig schüttelte sie den Kopf und setzte den Blinker. Die Ausfahrt war nicht mehr weit. »Ich habe mich so sehr darauf gefreut, mit dir zusammenzuarbeiten. Herr von Stein hat versprochen, dir alles beizubringen, was er weiß. Das ist eine einmalige Chance.«
Geduldig hörte Caspar den Ausführungen seiner Mutter zu.
»Im Augenblick finde ich es aber wichtiger, meine eigenen Erfahrungen zu sammeln«, wandte er so sanft wie möglich ein. Er kannte Leonie gut genug, um zu wissen, dass er sie nicht noch mehr reizen sollte, wenn er sein Ziel erreichen und ihren Segen wollte.
»Na gut. Wenn das so ist, lassen wir das mit der Einarbeitung. Dann machst du deine Fehler eben selbst.«
Sie hatten ihr Ziel, das Nobelhotel in der Münchner Innenstadt, erreicht. Leonie stellte den Wagen vor dem Eingang ab. Sofort sprang ein Fahrer herbei, um ihn in der Garage zu parken. Ein anderer dienstbarer Geist trat zu ihnen, um Caspars Rucksack zu tragen. Doch auch das war dem jungen Ausreißer nicht recht. Er schickte den Pagen weg und trug sein Gepäck selbst. Kopfschüttelnd folgte seine Mutter ihm.
Caspar wusste, dass er die Wahrheit nicht länger verschweigen konnte.
»Das werde ich tun. Aber nicht in unserem Hotel. Ich habe schon einen Vertrag in einem Hostel in Siem Reap unterschrieben. Ich bin nur zurückgekommen, um von hier aus ein paar Sachen zu organisieren. Versicherungen, Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis … solche Sachen.«
Leonie blieb so abrupt stehen, dass Caspar sie um ein Haar umgerannt hätte.
»Ein Hostel? Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?«
Mitten in der Lobby und unter den neugierigen Blicken des Personals starrte sie ihren Sohn an. Ihre Stimme hallte schrill von den hohen Wänden. Caspar ballte die Hand zur Faust. Ruhig, Alter, ruhig!, beschwor er sich im Geiste.
»Mein Ausbilder meinte, das wäre die beste Gelegenheit, Erfahrungen zu sammeln. Nur wer ganz unten Erfolg hat, kann oben bestehen.«
»Ach, wirklich? Das hat dein Ausbilder gesagt?«, zischte Leonie Jürgens. »Und das, was ich zu sagen habe, interessiert keinen Menschen, was?«
»Doch. Ich wollte mit dir sprechen. Aber du bist ja nie erreichbar.«
Mutter und Sohn standen einander gegenüber und starrten sich an. Als Caspar bemerkte, wie Leonie mit der Fassung rang, atmete er tief durch. Auf keinen Fall wollte er sie dem Gespött der Angestellten preisgeben.
»Können wir das nicht in deinem Büro besprechen, Mama?«, fragte er sanft.
Seine gute Absicht wurde im Keim erstickt.
»Ich wüsste nicht, was es da zu besprechen gibt«, zischte Leonie. »Das ist eine Schnapsidee, und das weißt du so gut wie ich! Du wirst mir doch nicht im Ernst weismachen wollen, dass du schon immer eine Herberge für minderbemittelte Rucksackträger aufmachen wolltest.«
Caspar traute seinen Ohren nicht.
»Wir redest du denn? Hast du dir überhaupt schon einmal zugehört?«, fragte er fassungslos.
»Lenk nicht vom Thema ab!«, herrschte Leonie ihren Sohn an. »Im Augenblick geht es um dich und nicht um mich.«
Schwer atmend standen sich Mutter und Sohn in der Hotellobby gegenüber, sehr zur Belustigung des Personals. Zum Glück waren wenigstens in diesem Moment keine Gäste zu sehen.
Caspar haderte mit sich.
»Können wir nicht in Ruhe noch einmal über die ganze Sache reden?«, wiederholte er nach ein paar Augenblicken des Schweigens seine Bitte.
Doch Leonie Jürgens hatte kein Einsehen.
»Es gibt nichts zu besprechen«, erwiderte sie. »Geh bitte hinauf in dein Zimmer und sorge dafür, dass du wieder wie ein Mensch aussiehst. In einer halben Stunde hast du einen Termin mit Herrn von Stein.« Sie nickte ihm kühl zu, ehe sie sich umdrehte und ihn stehen ließ.
Caspar starrte ihr ungläubig nach. Dann wandte er sich ab und rannte Richtung Ausgang. Der Rucksack tanzte auf seinem Rücken. Aufgeschreckt von diesem Geräusch blieb Leonie stehen und fuhr herum. Genau in dem Moment, in dem der Rucksack samt gebleichtem Haarschopf durch die Tür verschwand.
*
»O Dan, das kann doch nicht sein!« Felicitas Norden wanderte in ihrem Büro auf und ab und hätte sich am liebsten die Haare gerauft. Ihr Mann saß auf der Schreibtischkante und sah ihr bei ihrem rastlosen Marsch zu. Sie blieb vor ihm stehen und sah ihn an. Doch in Wahrheit ging ihr Blick durch ihn hindurch. »Wir müssen doch irgendetwas für den Kleinen tun können. Schwach, wie er ist, stirbt er uns beim nächsten Anfall einfach weg.« Seitdem Niklas Kronseder in die Klinik eingeliefert worden war, hatte sich sein Zustand trotz aller Bemühungen nicht verbessert.
Das wusste Daniel Norden so gut wie seine Frau.
»Leider bleibt uns nichts anderes übrig als abzuwarten, wie es morgen früh aussieht.« Diese Worte fielen ihm alles andere als leicht. Und dass sie kein Trost waren, wusste er auch. Aber sollte er seine Frau belügen?
In diesem Moment ging Fees ungeliebter Stellvertreter draußen auf dem Flur am Büro vorbei. Dr. Volker Lammers schnappte die letzten Worte auf und wurde hellhörig. Er zögerte nur kurz. Dann klopfte er.
»Ah, hier sind Sie, Frau Kollegin. Chef!« Er machte zuerst eine Verbeugung in Fees und dann in Daniels Richtung.
Die Erfahrung hatte Felicitas gelehrt, auf der Hut vor diesem Tunichtgut zu sein. Seit der begnadete