»Lest ihr keine Zeitung?«, schnaubte Elena. »Neulich hat sich die halbe Belegschaft einer Firma eine Fischvergiftung eingefangen. Wenn uns so etwas passierte, könnten wir dicht machen.« Sie wandte sich wieder an Fee. »Auf was hast du Lust? Burger? Chinese? Italiener?«
»Seid mir nicht böse, Kinder. Aber ich bringe keinen Bissen herunter.«
»Sie sind doch nicht etwa schwanger?«, platzte Valentin heraus.
Nun musste Fee doch lachen.
»Vielen Dank für das Kompliment. Aber aus diesem Alter bin ich hoffentlich heraus.«
»Ich meinte ja nur … weil Sie so blass sind, keinen Appetit haben …«
Mit einer Geste stoppte Fee seine Mutmaßungen.
»Wenn alle appetitlosen, blassen Frauen an dieser Klinik schwanger wären, hätten wir ein echtes Personalproblem.«
Sie sah Schwester Josefa nach, die mit gesenktem Kopf am Tresen vorbei eilte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her.
»Keine Sorge, die ist nur wütend auf mich«, erklärte Elena. »Und was das Essen angeht: Wir werfen eine Münze.«
Mit dieser salomonischen Entscheidung waren alle zufrieden.
»Zahl ist Burger, Wappen ist Chinese.« Valentin zauberte ein Euro-Stück aus der Tasche.
»Bestellt irgendwas für mich mit. Ich bin so hungrig, ich esse sogar eine Pappschachtel«, bat Elena. Sie machte sich ernsthafte Sorgen um ihre Freundin. Sie winkte Fee mit sich ins Schwesternzimmer und schloss die Tür. »Raus mit der Sprache! Was ist los mit dir? Leugnen zwecklos. Wenn du das Essen verweigerst, stimmt etwas nicht.«
Diese Ansage genügte, um jeden Widerstand in Fee zu brechen. Seufzend sank sie auf die Lehne eines Stuhls und verschränkte die Arme.
»Ich mache mir solche Vorwürfe«, murmelte sie.
»Wie bitte?«
»Ich«, Fee deutete auf sich. »Vorwürfe!«
»Schon gut, ich habe dich schon verstanden. Rein akustisch. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass du heute auf dem OP-Plan gestanden hättest. Für das Ableben eines Patienten kannst du also kaum verantwortlich sein.« Elenas kleiner Scherz verfehlte sein Ziel.
Felicitas fuhr sich über die Augen.
»Es ist wegen Lammers. Diese Kiste, über die er gestolpert ist. Was, wenn ich sie versehentlich doch auf den Boden gestellt habe?« Ihre Verzweiflung war echt.
Elena sah es an ihrem Gesicht, hörte es an ihrem Tonfall.
»Du tust ja gerade so, als ob er tot wäre.« Sie packte Felicitas an den Schultern und schüttelte sie. Das Kettchen um ihren Hals hüpfte im Takt dazu. »Hallo! Er hat sich nur den Fuß gebrochen. Sei doch froh. Dann hast du wenigstens ein paar Wochen Ruhe vor ihm.«
»Aber es sieht so aus, als ob ich das mit Absicht getan hätte. Dabei stimmt das gar nicht.« Fee klang wie ein kleines Kind, das seine Puppe verloren hatte. Tatsächlich schimmerte es verdächtig in ihren Augen. »Dan ist gerade im OP. Ich darf gar nicht darüber nachdenken, was ist, wenn irgendwas schief geht. Dann sind wir beide unseren Job los. Und ich bin schuld«, schluchzte sie auf.
Als zweifache Mutter musste Elena nicht lange darüber nachdenken, was zu tun war. Traurige, verzweifelte Menschen brauchten immer dasselbe. Egal, ob groß oder klein. Sie legte die Arme um ihre Freundin, zog sie an sich und wartete geduldig darauf, dass das Beben der Schultern weniger wurde und schließlich ganz aufhörte.
*
»Blutdruck 118 zu 99. Die Herzfrequenz hat sich normalisiert.«
Dr. Weigand atmete auf.
»Das sieht doch schon mal besser aus.«
Das gleißende Licht der Operationslampe war auf das Operationsfeld gerichtet, das wie eine Insel in einem Meer aus blauen Tüchern lag.
»Frau Petzold, Sie müssen lernen, in kritischen Situationen ruhiger zu werden.« Das Operationsbesteck in seinen Händen klapperte leise.
Sophie nickte, ohne aufzusehen. Sie blinzelte ein paar Mal hintereinander.
»Das muss ich noch üben.«
Matthias zog eine Augenbraue hoch.
»Das kommt mit der Übung«, versprach er ungewöhnlich freundlich. »Bis dahin sollten Sie versuchen, sich die Ruhe einzureden. Autosuggestion nennt man das.« Er warf einen schnellen Blick hinüber zur Operationsschwester. »Mehr saugen! Weiter rechts. Danke.« Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich. »Frau Petzold, lösen Sie die Haken. Jetzt sollte nichts mehr passieren.«
Schweigend führte Sophie den Befehl aus. Alles blieb ruhig. Danach drehte sie den Kopf von rechts nach links, hob und senkte die Schultern.
Um sie nicht anzustarren, sah Matthias hinüber zum EKG. In schönster Regelmäßigkeit fuhr ein Punkt die bunten Linien hinauf und herab. Wie eine Achterbahn!, ging es ihm durch den Sinn. Matthias nickte zufrieden.
»Das war knapp. Frau Berger hat viel Glück gehabt.«
Die Klemmen klirrten leise, als Sophie sie in die Nierenschale legte, die die Operationsschwester ihr hinhielt.
»Wenn Sie bitte zumachen würden.« Er nickte ihr zu.
Sophies Augen wurden rund. Sie sah ihm zu, wie er den Operationstisch umrundete.
»Kein Problem.« Wie von Zauberhand wurden ihr Nadel mit Faden und Nadelhalter gereicht. Sie beugte sich über die offene Wunde. Gleichzeitig spürte sie Matthias‘ Wärme in ihrem Rücken. Irritiert drehte sie sich noch einmal um. Er stand nur wenige Zentimeter hinter ihr. Fast meinte sie, seinen Herzschlag spüren zu können.
»Vielen Dank, Sophie.« Seine Stimme war heiser. »Ohne Ihr schnelles Handeln wäre Frau Berger verloren gewesen.«
Ein Lob aus Matthias Weigands Mund? Sophie traute ihren Ohren kaum. Der Boden unter ihren Füßen schwankte.
»Gern geschehen«, murmelte sie und lehnte sich nach vorn.
Der Operationstisch fing sie mit seiner starken, kühlen Umrandung auf und stützte sie. Ein leises Schnurren verriet, dass Dr. Weigand den OP verlassen hatte.
*
»Es ist alles gut gegangen. Wenn du willst, können wir ihn besuchen«, verkündete Daniel Norden mit lachender Stimme am Telefon. Im nächsten Augenblick wäre ihm um ein Haar das Handy aus der Hand gefallen. Er befürchtete, einen Hörsturz erlitten zu haben. Sein Ohr war taub und klingelte.
»O Dan, du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin.«
»Doch, das kann ich«, versicherte er und rieb sich das schmerzende Ohr. »Ich mache mich jetzt auf die Suche nach einem guten HNO.«
»Stell dich nicht so an!« Noch immer überschlug sich Fees Stimme vor Erleichterung. »Das wird schon wieder. Ich bin in drei Minuten bei euch.« Sie drückte das Gespräch weg und machte sich auf den Weg.
Atemlos erreichte sie ihr Ziel. Sie beugte sich nach vorn, eine Hand in die Seite gepresst.
Daniel lehnte vor dem Wachraum an der Wand.
»Drei Minuten achtundvierzig. Gar nicht schlecht für eine alte Frau.« Mit einem Hüftschwung wich er ihrem Boxhieb aus. Langsam kam Fee wieder zu Atem. Sie richtete sich auf und funkelte ihn an.
»Alte Frau! Dir werde ich helfen.«
»Das war nur die Retourkutsche für mein Ohrleiden.« Ein Heiligenschein schwebte über seinem Kopf. »Aber darüber können wir uns später noch streiten. Lammers erwartet uns schon sehnsüchtig.«
An seiner Stimme erkannte Fee, dass auch ihr Mann unendlich erleichtert war über den guten Ausgang der Operation. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Daniel zwinkerte ihr zu, bevor sie Seite an Seite den Raum betraten.