Die meisten Bukarester und Wiener Gedichte wurden von Celan als erster Zyklus in Mohn und Gedächtnis übernommen, nachdem er den Wiener Band wegen Druckfehlern zurückgezogen hatte. Von dem Band wusste Claire Goll zunächst nichts, weil sie sich zum Erscheinungszeitpunkt Ende 1952 schon in den USA aufhielt.13 Nach Exners Hinweis 1953 verschickte sie einen mehrfach variierten Rundbrief an Kritiker sowie Angehörige von Verlagen und Rundfunkanstalten mit dem deutlichen Ziel, Celan im westdeutschen Literaturbetrieb zu schaden.14 Ob Exner der Text des Rundbriefs in der einen oder anderen Form damals zugänglich war, ist nicht mehr zu klären. Die partielle Übereinstimmung von Der Sand aus den Urnen mit Mohn und Gedächtnis erkannte Claire Goll wohl lange nicht, wenn sie sich überhaupt je damit beschäftigte. Im hier gesichteten Material spielt Celans Debütband keine Rolle, und zwar auch dann nicht, nachdem Exner 1960 eine Abschrift des Rundbriefs in Händen hielt und von mehreren Gesprächspartnern eine Fotokopie hätte erbitten können.
Das aus Richard Exners Besitz stammende Material zur Goll-Affäre besteht aus 32 Dokumenten aus den Jahren 1953 – 1957 und 1960/61, von denen vier als Briefbeilagen einzustufen und jeweils im Konvolut befindlichen Briefen zuzuordnen sind.15 Es handelt sich um Korrespondenzen Exners mit Claire Goll und Paul Celan, mit dem US-amerikanischen Romanisten Francis Carmody, mit dem Verleger Celans seit 1959 Rudolf Hirsch vom S. Fischer Verlag, mit Reinhard Döhl, dem Autor einer 1961 erschienenen Untersuchung der Vorwürfe Claire Golls für die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung sowie mit dessen Auftraggeber, dem Stuttgarter Ordinarius Fritz Martini.
Die vier Beilagen sowie elf der 28 Briefe sind aus dem Deutschen Literaturarchiv Marbach bekannt und teilweise auch publiziert, darunter die an Celan versandten und einer von ihm;16 17 Briefe aber sind bisher in keiner anderen Sammlung nachgewiesen. Was Exner vernichtet hat, ist dem Material nicht zu entnehmen. Es fällt freilich auf, dass wohl keine der von Warnebold erworbenen Korrespondenzen vollständig ist; das Fehlende ist zum Teil aus den Marbacher Beständen ersichtlich. Nicht nur Erkenntnisse aus bisher nicht bekannten Inhalten sind also zu erwarten, sondern auch am Vergleich mit dem anderweitig Nachgewiesenen zu gewinnende Einsichten in die Absichten und Anliegen mancher Beteiligten bei ihrer Selbstdarstellung, die daran sichtbar werden, dass bestimmte Dokumente aufbewahrt wurden, andere nicht.17 Hier kann nur ein Überblick über den ‚Mehrwert‘ versucht werden, den der Bregenzer Bestand für die Forschung darstellt.
Unsere Kenntnis von Briefen Claire Golls an Exner wird nicht nur um die beiden handschriftlichen Briefe18 – erweitert, für die die Absenderin keinen Beleg behalten konnte, sondern auch um maschinenschriftliche. Nicht verwunderlich und umso wertvoller in unserem Zusammenhang ist daher ihr Brief vom 17. Juni 1956, in dem sie Exner offen und im Übrigen ohne Unrechtsbewusstsein mitteilt, dass sie für den gerade bei Seghers in Paris erschienenen Sammelband Poètes d’aujourd’hui – Yvan Goll seinen Aufsatz La poésie allemande d’Yvan Goll, für den sie als Übersetzerin zeichnet, am Schluss ohne Rückfrage beim Autor bearbeitet hat:
„Anstatt der langen Zitiererei, die die Franzosen nicht sehr interessiert hätte, setzte ich die herrlichen Sätze aus Deinem englischen Essay über Yvan, wobei der Celan (ohne genannt zu werden) doch die ihm gebührende Maulschelle abbekommt. Es war nötig, er verbreitete nämlich neustens, dass Yvan ‚von ihm abgeschrieben‘ habe!!“.19
Ein solches Selbstbekenntnis zu Manipulationen an einem fremden Text, den sie selbst später immer wieder als ‚Beleg‘ für die Bestätigung ihrer Thesen durch Dritte heranzieht, sollte es zumindest dann offenbar nicht mehr geben, als ihr Textmanipulation im Rahmen der Auseinandersetzung mit Celan vorgeworfen wird. Von dem Bekenntnis, das Exners eigene Argumentation gegenüber Celan und Fritz Martini bestätigt,20 fehlt im Marbacher Nachlass folgerichtig der Durchschlag, den sie mit Sicherheit angefertigt hat.
Der Brief ist jedoch nicht nur ein Zeugnis für Claire Golls Selbstdarstellung durch den Nachlass, sondern macht auch Aussagen über Exners Haltung in der ersten Hälfte der 1950er Jahre in Bezug auf ihre Vorwürfe gegenüber Celan und darüber, dass er durchaus Möglichkeiten hatte, ihr textmanipulatives Tun wahrzunehmen. Zwar beruft sie sich nämlich auf eine eigene Formulierung Exners, in der französischen Fassung von Exners Aufsatz belässt sie es dabei aber nicht. Exner bezeichnet in dem von Claire Goll genannten Aufsatz für eine britische Zeitschrift, Yvan Goll – zu seiner deutschen Lyrik, Celan tatsächlich 1954 als einen, „der das Zeichen Golls weithin erkennbar trug“.21 Claire Goll weitet ihre „Maulschelle“ 1956 jedoch erheblich über das von Exner damals Formulierte aus: „et un des jeunes poètes – peut-être le plus discuté actuellement – porte visiblement la marque de l’influence de Goll, notamment la marque intemporelle de son oeuvre de maturité, dont le style est relativement facile à imiter, au moins superficiellement.“22 Später wird Exner auf die Eigenmächtigkeit der Übersetzerin zwar hinweisen, aber eben nicht darauf, dass sich ein Teil der von ihr eingesetzten Formulierung an eine eigene anlehnt. Gerade am Umgang damit hätte er als Philologe jedoch erkennen können, wie wenig genau sie es bei der Bearbeitung von Texten nimmt.
Er konnte sich damals wie später im Übrigen nicht auf die Annahme berufen, dass die Witwe sicherlich mit seinen Aufsätzen weniger ehrfurchtsvoll umging als mit den Gedichten ihres verstorbenen Mannes. Das lässt sich an einem weiteren bisher unbekannten Dokument aus dem Bregenzer Exner-Bestand zeigen, dem dort einzigen Brief – weitere Korrespondenz hat es mit Sicherheit gegeben – des erfahrenen US-amerikanischen Romanisten Francis Carmody an Exner vom 21. März 1955, der an einem Buch über Yvan Goll arbeitete. Carmody macht einerseits klar, dass Claire Goll ihm bisher Einsicht in die den deutschen Nachlassbänden Traumkraut und Abendgesang23 zugrundeliegenden Handschriften verweigert hat, und weist andererseits auf ihre Eingriffe im Bereich der Datierungen hin: „The