Einsamkeit wird zunehmend »populär«. Grund genug, sich damit zu beschäftigen – auch geistlich. Einsamkeit passiert auch Menschen, die wenig oder gar nicht allein sind. Andere sind häufiger allein, fühlen sich aber dabei nicht einsam. Viele vermeiden das Alleinsein aus Furcht vor der Einsamkeit. Alleinsein sei ein sozialer Zustand, Einsamkeit ein psychologischer, definieren manche. Jedenfalls sind Alleinsein und Einsamkeit offenbar nicht immer dasselbe. Wer gut einsam sein kann, kann auch gut allein sein. Aber wer schon das Alleinsein meidet wie der Teufel das Weihwasser, der kommt auch nie in einer positiven Einsamkeit an. Da unsere Zivilisation offenbar zunehmend sehr viele Möglichkeiten bietet, zum Einsiedler zu werden, wäre es eigentlich an der Zeit, das Thema einmal sehr intensiv in den Blick zu nehmen und auch seine Chancen populärer zu machen, anstatt nur unter den Risiken zu leiden.
Unter klösterlichen Gesichtspunkten stellen Alleinsein und Einsamkeit kein Problem dar, sondern im Gegenteil etwas sehr Erstrebenswertes. Gleichwohl sagt auch Benedikt, dass sich nicht jeder Mensch bzw. Mönch in gleicher Weise dazu eignet. Einsamkeit soll man erst lernen – und zwar in der Gemeinschaft. Bewährung in der Gemeinschaft und gelingende Einsamkeit sind zwei Seiten einer Medaille. Wenn Gemeinschaft gut funktioniert, wirkt sie stärkend auf den Einzelnen ein. Aus dieser Stärkung heraus kann man auch mal für einige Zeit allein sein, ohne darunter zu leiden. Dieses Alleinsein hat dann eher einen Erholungscharakter, ähnlich dem berühmten Wunsch nach der einsamen Insel, auf die so mancher überforderte Zeitgenosse gern flüchten würde, um dort festzustellen, dass er auch damit überfordert ist. Zu viel Alleinsein stresst mitunter genauso wie zu viel Gemeinschaft.
Dass der Mensch ein auf Gemeinschaft hin angelegtes Wesen ist, wussten schon die alten Griechen. Auch der Schöpfungsbericht der Bibel bescheinigt, dass es nicht gut ist, dass der Mensch allein bleibt (Gen 2,18). Im Alleinsein steckt also tatsächlich eine Gefahr, die wir spüren und deshalb instinktiv die Flucht davor ergreifen. Wer von sich sagt, dass er nicht allein sein kann und will, ist deshalb unwiderlegbar auf dem richtigen Weg. Besser, man akzeptiert dieses Unvermögen, als darin unterzugehen.
Aber Alleinsein lässt sich nicht immer vermeiden. Es gibt immer wieder Wegstrecken, die zur Einsamkeit zwingen. Schon die normale Arbeitswelt zwischen Rationalisierung und unendlicher Flexibilität eröffnet jede Menge Raum für Einsamkeit. Bei längeren Krankenhausaufenthalten kann nicht ständig jemand am Bett sitzen. Viele alte Menschen müssen über viele Stunden allein bleiben, bis wieder jemand nach ihnen schaut. In Trauerfällen entsteht ein inneres Alleinsein, eine Lücke, die der andere hinterlässt und die sich nicht so einfach schließen lässt. Oder nach einem größeren Konflikt mit dem Gesetz kann es einen – was ferne sei – gar hinter Stahltüren verschlagen.
Der monastische Ansatz, Einsamkeit als Erfahrungsort zu begreifen, kann dabei helfen, diese Wegstrecken unbeschadet, ja sogar mit Gewinn zu meistern. Denn auch in der Einsamkeit geschieht Begegnung. So einsam ist Einsamsein nämlich gar nicht. Da ist nicht niemand, der mit einem spricht, sondern dort erwarten einen im Gegenteil sehr viele Stimmen: die eigenen inneren Stimmen, die sonst im Lärm des Alltags und der Ablenkung durch die Themen der Gemeinschaft nicht so oft zu Wort kommen. In der Einsamkeit kann man vor diesen nicht mehr davonlaufen. Sie verfolgen einen sehr schnell, manchmal wie der sprichwörtliche Teufel die arme Seele. Benedikt empfiehlt nun nicht die möglichst schnelle Flucht, sondern den Mut, mit diesen Stimmen den »Kampf« aufzunehmen, sich ihnen zu stellen, mit ihnen in Kontakt zu treten und sich anzuhören, was sie zu sagen haben. Oft entdeckt man dabei, dass es gar keine Feinde sind, die sich da bemerkbar machen, sondern nur unterdrückte und vernachlässigte Freunde, die gekommen sind, um eigene Missstände zu benennen und nach Abhilfe zu suchen, damit es ihrem Freund, dem Menschen, den sie begleiten, wieder besser geht. Manche Menschen schaffen es, diesen Kampf autodidaktisch zu erlernen. Vielen wird man aber auch erst helfen müssen, ihn zu begreifen. Auf jeden Fall lohnt es sich, ihn nicht zu vermeiden. Ein guter Feind ist wie ein guter Freund: Er zeigt einem die eigenen Schwachstellen auf, die Anteile, an denen sich etwas besser machen lässt.
Der größte Wandel geschieht immer in der Einsamkeit. Am Ostermorgen entdeckte man nur ein leeres Grab. Wie es kam, dass Jesus wieder lebendig werden konnte, hat bis heute niemand erfahren, außer ihm.
10 • Ordnung
» RB 1,13: Gehen wir mit Gottes Hilfe daran, eine Ordnung zu geben.
OSB. Ordo Sancti Benedicti. »Nach der Ordnung des Heiligen Benedikt.« Benediktiner stehen auf Ordnung. Es ist ihre Grundlage, der Boden, auf dem sie sich bewegen. Sogar im Namen steckt es schon – ganz vorne. Ohne Ordnung geht nichts und niemand irgendwohin. Ordnung ist schon für andere das halbe Leben. Für Benediktiner darf’s auch gern ein bisschen mehr davon sein.
Das »mit Gottes Hilfe« beim Ordnungmachen gab es schon einmal: der Schöpfungsmythos, den die Bibel überliefert (Gen 1–2), erzählt davon. Gott selbst schafft Ordnung im Chaos und erschafft so die Welt. Ordnung hat also mit Schöpfung zu tun. Die Klosterordnung auch. In dem Gedanken, dass das Kloster eine Ordnung braucht, spiegelt sich die Erinnerung an die Schöpfungsordnung. Gott schafft Ordnung, auch im Kloster. Gott erschafft auch das Kloster. Gott bewegt das Chaos, das sich auch immer wieder neu ins Kloster einschleicht, hin zu einer neuen Ordnung. Ein Orden hat Anteil am Schöpfungsakt. Er ist Schöpfung, weil er Gottes ist.
11 • Der Abt
» RB 2,33: Vor allem darf er über das Heil der ihm Anvertrauten nicht hinwegsehen oder es geringschätzen.
» Man lese RB 2 und 64 sowie etwa die Hälfte der ganzen übrigen Regel!
Geburtshelfer, Eltern, Geschwister, Verwandte, Großeltern, Freunde, Erzieher, Gruppenleiter, Lehrer, Ausbilder, Vorgesetzte, Chefs, Ehefrauen und -männer, die eigenen Kinder, Therapeuten, Pädagogen, Ortspfarrer, Beichtväter, Bischöfe, Vereins-, Chor- und Kursleiter, Rettungshelfer, Ärzte, Krankenpfleger, Sterbebegleiter – überall Autoritäten. Kaum ein Tag im Leben, an dem man wirklich machen kann, was man will. Ständig Menschen, die in irgendeiner Form und Berechtigung Gehorsam erwarten und Einfluss nehmen auf das eigene Geschick. Äbte gibt es überall. Oder vielmehr: Anteile von Äbten. Der Abt, wie ihn Benedikt darstellt, lässt sich als Gesamtkunstwerk wohl nur im Kloster antreffen. Draußen gibt es niemanden, der eine ähnliche Position hat. Autoritäten existieren genug. Doch in den meisten Fällen fehlt ihnen jener familiär-liebende Einschlag, der für einen wirklichen Abt so wichtig ist. Die Erwartung von Gehorsam geht meistens nur in eine Richtung: Meinungsaustausch heißt, mit der eigenen Meinung zum Chef zu gehen und mit seiner wiederzukommen. Bessere Chefs als diese haben Seltenheitswert. Wer einen davon vorgesetzt bekommt, der pflege ihn sich gut!
Was unterscheidet den Abt von anderen Autoritäten? Ist jemand, der »in der Welt« nach benediktinischen Grundregeln leben will, verpflichtet, jedem Vorgesetzten gegenüber Gehorsam zu üben, wie er ihn als Mönch oder Nonne im Kloster leisten würde?
Einen Abt zeichnet es aus, dass für ihn die gemeinsame Regel der Klostergemeinschaft in noch höherem Maß gilt als für den einfachen Mönch. Ein Abt soll nicht in erster Linie Verantwortungsträger sein, sondern Vorbild. »Besonders wahre er in allem die vorliegende Regel« (RB 64,20), »er suche, mehr geliebt als gefürchtet zu werden« (RB 64,15), und »er wisse, dass er mehr helfen als herrschen soll« (RB 64,8). Dem Gehorsam, den er von seinen Mitbrüdern erwarten kann, steht der Gehorsam gegenüber, den diese von ihm erwarten können. Gehorsam im benediktinischen Sinn meint ein gemeinschaftliches Hören aller auf den Willen der ganz großen Autorität, unter der sie leben. Vom Abt wird kein Befehlsvermögen erwartet, sondern eine noch größere Begabung, hinzuhören und unter den vielen Stimmen der Gemeinschaft diejenige des allumfassenden Gemeinschaftsstifters herauszuhören. Der Abt »vertritt im Kloster die Stelle Christi« (RB 2,2), das heißt, er soll sich bemühen, so zu handeln, wie Jesus handeln würde, wenn dieser an seiner Stelle Abt wäre. Meinungsaustausch im Kloster bedeutet also, mit der eigenen Meinung zum Herrn zu gehen und mit Seiner wiederzukommen. Ob eine Autorität wie ein Abt angesehen werden kann und ein Weltbenediktiner ihr demnach in ähnlichem Sinn gehorchen darf, hängt also davon ab, ob der Chef auch noch einen Herrn über sich hat, dem dieser gehorcht und ob es für beide derselbe Herr ist.
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