4 • Jetzt
» RB, Prolog 43–44: Noch ist Zeit, noch sind wir in diesem Leib, noch lässt das Licht des Lebens uns Zeit, alles zu erfüllen. Jetzt müssen wir laufen und tun, was uns für die Ewigkeit nützt.
Für Benedikt existiert nur eine maßgebliche Zeit: die Gegenwart. Seine ganze Pädagogik zielt darauf ab, im aktuellen Moment, im Hier und Jetzt und am Ort, den die eigenen Füße gerade berühren, leben zu lernen, die Aufgabe dieses Augenblicks zu erfassen und ihr gerecht zu werden. Das Gestern ist vergangen, das Morgen noch nicht da. Wichtig ist das Heute. Auf das Heute können wir Einfluss nehmen. Dem Heute können wir uns stellen. Es geht um die Präsenz: darum, jetzt und hier da zu sein. Das schließt nicht aus, die Vergangenheit zu reflektieren und aus ihr zu lernen. Auch nicht, für die Zukunft Visionen zu entwickeln und ihnen entgegenzustreben. Auch das ist wichtig, weil es dem Leben im Hier und Jetzt eine Richtung gibt. Eine, aus der wir kommen, und eine, in die es uns treibt.
Vergangenheit und Zukunft gleichen den Balancierstangen auf dem Drahtseil. Mit ihnen läuft es sich auf dem schmalen Boden, der sich den Füßen bietet, etwas sicherer. Doch unsere Aufmerksamkeit gebührt allein dem Seil. Wer zu oft darüber nachdenkt, wie viel Fallhöhe ihn beim Absturz erwartet, verschwendet seine Energie.
Wir wollen doch ankommen. In (der) Ewigkeit. Der Weg dahin führt über die Gegenwart.
5 • Eine Schule des Herrn
» RB, Prolog 45: Wir wollen also eine Schule für den Dienst des Herrn einrichten.
Viele Themen, die Benedikt anspricht, viele Tipps, die er gibt, sind recht profaner Natur und auf jeden Fall nützlich, auch wenn man sie aus dem Kontext des Glaubens völlig herausschneiden würde. Doch wer im Kloster nur eine beliebige Lebensschule sieht, der sieht zu wenig.
In der Schule für den Dienst des Herrn ist jeden Tag Examen, jede Stunde Prüfung, jedes Wort ein Aufsatz, jede Zahl ein Rechenexempel, jeder Mensch Klassenkamerad, alles, was begegnet, potenziell Lehrer und Erzieher. »Prüft die Geister, ob sie aus Gott sind« (RB 58,2 nach 1 Joh 4,1). Stündlich. Hier wird der Mensch von seinem Schöpfer zum Kader geschmiedet.
6 • Fliehe nicht vom Weg des Heils
» RB, Prolog 48: Lass dich nicht sofort von Angst verwirren und fliehe nicht vom Weg des Heils. Er kann am Anfang nicht anders sein als eng.
Wer fühlt sich schon gern wie neu geboren? Zerknittert und traumatisiert von der Enge im Geburtskanal, fremden Menschen ausgeliefert, die Augen verkniffen vom plötzlich grellen Licht, zitternd vor ungewohnter Kälte, wichtige Versorgungsadern werden einem abgeschnitten, in kürzester Zeit soll man lernen, wie es jetzt weitergeht. Eine einzige Katastrophe. Aber was wäre geworden, wenn man die Situation hätte vermeiden können? Nichts mehr, nur noch Tod und Trauer und sinnloser Schmerz derer, die übrig bleiben.
Schon von unserem ersten Heilsweg durften wir nicht fliehen. Und jede neue Lebensphase, die weiter in die Freiheit führt, gerät unwillkürlich zu einem Stück neuer Geburt. Heilswege können nicht anders sein als eng. Nur so führen sie in die Weite. Und manchmal bleibt uns in Sachen Wege keine Wahl.
7 • Ein weites Herz
» RB, Prolog 49: Wer aber im klösterlichen Leben und im Glauben fortschreitet, dem wird das Herz weit, und er läuft in unsagbarem Glück der Liebe den Weg der Gebote Gottes.
Versprechen haben in der benediktinischen Welt einen hohen Stellenwert. Das ganze benediktinische Gemeinschaftswesen basiert auf Versprechen. Ein Gelübde ist nichts anderes als ein Versprechen: »Bei der Aufnahme verspreche er (der angehende Mönch) im Oratorium in Gegenwart aller Beständigkeit, klösterlichen Lebenswandel und Gehorsam vor Gott und seinen Heiligen« (RB 58,17). Aber auch dem, der sich auf diesen Weg einlässt, wird etwas versprochen: ein weites Herz und unsagbares Glück (in) der Liebe. Neben allem, was das benediktinische Leben sonst noch zu bieten hat und wofür es sich sowieso schon zu leben lohnt, findet dieses Ziel des weiten Herzens manchmal kaum Beachtung. Doch es gehört sicher zum Schönsten und Erstrebenswertesten, was einem auf dem geistlichen Weg passieren kann.
Ähnlich wie andere Gottesgeschenke kann man sich auch ein weites Herz nicht selbst machen. Aber man kann sich bereitmachen für dieses Geschenk, indem man sich einlässt und sich den »Geboten Gottes« überlässt. Die Gebote Gottes führen automatisch in die Weite, auch wenn sie zuvor einen Gang durch schmale Pforten verlangen. Die Pforte muss durchschritten werden, man darf nicht in ihr stehen und stecken bleiben, was bisweilen nur mit Kämpfen geht. Mit der Zeit aber bekommt man Übung in solchen Kämpfen, und die Pforten lassen sich eine nach der anderen leichter bezwingen. Vor allem macht man die Entdeckung, dass einen hinter jeder dieser Pforten ein Stück mehr Freiheit erwartet. Das motiviert. Stück für Stück vermehrt sich so die Weite um und in einem.
Weitherzigkeit ist ein Charakteristikum benediktinischen Denkens. Engstirnigkeit hat dort keinen Platz. Benediktinisches Denken lädt immer wieder dazu ein, den eigenen Horizont nicht als das Ende der Welt zu betrachten, sondern auch mit dem ganz Anderen dahinter zu rechnen und ihm Raum zu geben. Wer nur noch im Althergebrachten leben kann, weiß, dass er den gemeinten Weg bereits verlassen hat.
»Macht weit die Pforten in der Welt, ein König ist’s, der Einzug hält!« (Gotteslob 360).
8 • Gemeinschaft
» RB 1,2: Die erste Art (von Mönchen) sind die Koinobiten: Sie leben in einer klösterlichen Gemeinschaft und dienen unter Regel und Abt.
Ein Christ ist kein Christ und ein Mönch kein Mönch. Davon scheint Benedikt auszugehen. Selbst Einsiedler gewesen, bevor er Mönch wurde, hält er diejenigen, die unter Regel und Abt in einer Gemeinschaft leben wollen, für die stärkste Art aller monastischen Erscheinungsformen und widmet ihnen seine ganzen Überlegungen (RB 1,13). Die Einsiedelei erlaubt er nur denen, die durch die Hilfe vieler zuvor »hinreichend geschult« wurden, um den Einzelkampf in der Wüste zu bestehen (RB 1,3–5).
Gemeinschaft hat etwas Formendes – wie die gemeinsame Wanderung der Kiesel in einem Bachbett: Am Anfang kantig und eigenwillig gestaltet, werden sie Kilometer um Kilometer umgewälzt und aneinander geschliffen, bis sie schließlich gefällig und weich in der Hand liegen.
In einer Gemeinschaft zu leben ist nicht der leichtere Weg. »Mit anderen Menschen zusammenzuleben, ist nie einfach. Allein ist es viel leichter, ein Heiliger zu sein«, gibt Esther de Waal zu bedenken, nicht ohne Augenzwinkern.*
Leichter mag es sein, sicherer ist es nicht. »Willst du schnell vorankommen, geh allein. Willst du weit kommen, geh mit anderen«, sagt ein afrikanisches Sprichwort. »Langsam, aber sicher« will Benedikt seine Leute also führen. Denn das Ziel ist weit gesteckt. Entschleunigung passt besser dazu als ein olympisches Höher-Schneller-Weiter, das nach dem Ruhm des Tages rasch verpufft. Und nur Dabeisein ist auch nicht alles. Gemeinschaft bedeutet Dienst aneinander und füreinander, also Arbeit. Das gilt für frei gewählte Glaubensgemeinschaften ebenso wie für die Familie und den Fußballverein. Wer echtes Leben anstrebt, gar das ewige, den erwartet eine dynamische, spannende, aber arbeitsreiche, manchmal mühevolle gemeinsame Zeit. Es ist eine große Investition, verspricht aber auch großen Gewinn.
Gemeinschaft kann aber auch schiefgehen. Es gibt keine Garantie, dass allein die pure Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft in ein glückliches Leben führt. Die Gemeinschaft muss zum Einzelnen passen und der Einzelne in die Gemeinschaft. Dazu ist es wichtig, darauf zu achten, ob die Ziele beider übereinstimmen. Nur, wo das Ziel dasselbe ist, kann auch ein gemeinsamer Weg entstehen, der die Kraft schenkt, die Schwierigkeiten, die unterwegs kommen, zu meistern, und der am Ende beide zufrieden macht.
* Esther de Waal, Gottsuchen im Alltag, Münsterschwarzach 2. Auflage 1999, S. 124.
9 • Einsamkeit