Elina hatte die Geste gefallen und geantwortet, sie gehöre nicht zu den Polizisten, die Rechtsanwälte schief anschauten, weil es ihnen manchmal gelang, einen Freispruch für offenbar schuldige Rüpel durchzusetzen. Jeder hat seinen Platz im Rechtssystem, hatte sie gesagt und vorgeschlagen, zusammen eine Tasse Kaffee zu trinken.
Es stellte sich heraus, dass sie beide am selben Tag geboren waren, am 24. Februar 1969. Seitdem fühlten sie sich wie Zwillingsseelen, obwohl sie sich kein bisschen ähnlich sahen. Elinas dunkle Haare waren kurz geschnitten und sie hatte grün melierte Augen, während Susanne hellblond war und die Welt mit klarblauen Augen betrachtete. Außerdem war Elina mindestens zehn Zentimeter größer.
Sie hatten angefangen, sich zu treffen, und auf der gemeinsamen Feier ihres dreißigsten Geburtstages hatte es zwischen Susanne und einem Rechtsanwaltkollegen, Johan Norman, gefunkt. Jetzt waren sie verheiratet und Elina war Patin der einjährigen Tochter Emilie. Dieser Samstagabend sollte der erste sein, an dem Elina und Susanne seit Emilies Geburt allein ausgingen.
Elina Wiik machte ihre übliche Runde durch die Boutiquen der Innenstadt in der eitlen Hoffnung, etwas zu finden, was sie in die Prinzessin des Abends verwandelte. Hennes & Mauritz in der Vasagatan war ihre absolut letzte Anlaufstelle. Sie schob die Kleiderbügel hin und her, als ihr eine Frau in der Schlussverkaufabteilung auffiel. Die Frau mochte um die fünfundvierzig sein und trug ein grünes Kleid. Elina folgte ihr mit Blicken. Zerstreut hob die Frau ein paar Kleidungsstücke an, die in einem Korb lagen. Sie trug einen Schal um den Kopf. Als sie sich reckte, sah Elina einen blauen Fleck gleich oberhalb des Handgelenks.
Langsam ging die Frau an den Kleidern entlang und zupfte an einigen Blusen. Elina folgte ihr. Als die Frau auf die Rolltreppe zuging, ein wenig entfernt von anderen Menschen, näherte sich Elina ihr von hinten.
»Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich aufdränge«, sagte sie. »Aber ich bin Polizistin und kann Ihnen vielleicht helfen.«
Die Frau drehte sich nicht um. Stattdessen entfernte sie sich rasch von Elina.
»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte Elina und streckte die Hand aus. »Wir können irgendwo hingehen und uns unterhalten.«
»Ich will nicht«, sagte die Frau, ohne sich umzudrehen. »Mir kann keiner helfen.«
»Sie brauchen sich nicht schlagen zu lassen«, sagte Elina verzweifelt.
Die Frau ging weiter, ohne stehen zu bleiben. Elina sah ihr lange nach. Dann verließ sie das Geschäft. Der Kleiderkauf erschien ihr jetzt nicht mehr so wichtig.
Susanne kam Viertel nach sieben, und nach einer Flasche Wein und viel Erzählen von der kleinen Tochter gingen sie ins Tanzlokal »Klippan« zum Essen. Beide wurden fleißig aufgefordert, und sie tanzten mit allen, die nicht offensichtlich angetrunken waren.
»Wenn man ins ›Klippan‹ geht, darf man nicht wählerisch sein«, sagte Susanne über die Männer im Lokal.
Nach einigen weiteren Gläsern Wein beklagte sie sich ein wenig darüber, dass ihr Sexleben seit der Geburt ihres Kindes etwas träger geworden war. Sie schaute auf den Tisch und schwieg eine Weile. Sie fingerte an ihrem Glas.
»Und ... wie geht es dir?«, fragte sie und schaute vorsichtig auf. Sie war die Einzige, die von Elinas Verhältnis mit Martin wusste, sie wusste aber auch, dass Elina nicht gern darüber sprach.
Soll ich ihr erzählen, wie es ist?, dachte Elina. Wie jämmerlich und ungeheuerlich es ist. Was hab ich zu verlieren, wenn ich mich Susanne anvertraue? Wenn ich mich nicht auf sie verlassen könnte, brauchten wir uns gar nicht mehr zu treffen. Ich sollte ... ich ...
»Es ist okay«, antwortete Elina lächelnd.
Susanne legte die Hände auf den Tisch und lehnte sich zurück.
»Wie schön«, sagte sie mit ausdrucksloser Miene.
Elina bereute ihre Antwort sofort.
»Wir gehen, es ist spät«, sagte Susanne.
Als sie auf die Straße kamen, nahm Elina Susannes Hand.
»Susanne«, sagte sie, »sei trotzdem meine Freundin, auch wenn es mir schwer fällt, über manche Sachen zu sprechen. Ich wünschte, ich wäre wie du und hätte es wie du.«
Susanne nickte. Sie gab Elina einen festen Händedruck, bevor sie sich trennten.
Möge ich nie einsam sein, dachte Elina. Sie erwog, Martin über sein Handy anzurufen, ließ es dann aber.
Um Viertel vor eins schlief sie in ihrem Bett ein.
8
Mikael Adolfsson drehte den Kopf und schaute auf die Uhr, die auf dem Fußboden neben seinem Bett stand. Nichts hatte ihn geweckt. Dabei waren es noch zwei Stunden und fünfzehn Minuten, bis er aufstehen musste. Er streckte die Hand aus und drückte auf »Off«. Das Wecksignal war nicht mehr nötig.
Jeden Samstagabend wurden die Wecker im Haus gestellt. Um acht Uhr sollte die Ruhe des Sonntagmorgens für alle beendet sein. Die anderen schliefen bis dahin durch. Die Eltern in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer. Peter in seinem Zimmer, das eigentlich nur eine umgebaute Kleiderkammer mit Dachfenster war. Stina in ihrem Zimmer. Keiner der anderen hatte am Wochenende Schwierigkeiten mit der unterbrochenen Alltagsroutine des Frühaufstehens. Aber Mikael wurde immer zu früh wach.
Er stand sofort auf und zog Jeans und Pullover an. Später würde er sich umziehen. Er ging hinunter ins Bad und klappte die Toilettenbrille auf. Die Porzellanschüssel war voller gelber Flecken.
Als er fertig war, drehte er sich um und begegnete seinem Gesicht im Spiegel vom Badezimmerschrank. Sein Blick wanderte über das Spiegelbild und blieb am rechten Ohr hängen.
»Ein Ring im Ohr«, sagte er leise und kniff sich fest ins Ohrläppchen. »Wenn ich ausziehe.«
In der Diele zog er Schuhe an und ging zum Schuppen hinaus. Ganz oben auf einem Regal links von der Tür stand eine Kiste. Er grub ein dickes Comicheft hervor. Es hieß »Wikingerblut« und auf dem Umschlag töteten zwei große blonde Männer einen dunkelhäutigen Mann mit Schwertern. Er nahm das Heft mit ins Haus, legte es auf die Plastikdecke vom Küchentisch, setzte sich und fing an zu lesen.
Zwei Stunden später klingelten die Wecker in drei Zimmern fast gleichzeitig. Er erhob sich, ging wieder in den Schuppen und versteckte das Comicheft im Regal. Als er ins Haus zurückkehrte, kam seine Mutter die Treppe hinunter. Unter dem verwaschenen Frotteemorgenmantel sahen ihre Waden hervor. Ohne ein Wort ging sie an ihm vorbei in die Küche und stellte eine Kochplatte an.
Der Vater kam erst herunter, als der Frühstückstisch gedeckt war. Er setzte sich an die Schmalseite des Küchentisches. Peter und Stina kamen gleich danach und setzten sich an die eine Längsseite, gegenüber von Mikael und der Mutter.
Wortlos aß Mikael seine Cornflakes mit Milch. Nach dem Frühstück ging er in sein Zimmer und zog sich um. Der Schlips war schon geknotet, er brauchte die Schlinge nur über den Kopf zu legen und den Knoten unter dem weißen Kragen festzuziehen. Dann setzte er sich aufs Bett. Er saß ganz still und reduzierte seinen Atem, bis Brust und Bauch sich fast nicht mehr bewegten. Eine Stunde und zehn Minuten später hörte er die Stimme seines Vaters von der unteren Diele.
»Wir fahren jetzt.«
Sie quetschten sich in den Opel, der älter war als Peter, der Erstgeborene. Die Eltern auf den Vordersitzen und die Kinder hinter ihnen. Nur einmal in den fast vier Jahren, die sie in Surahammar wohnten, hatten sie den sonntäglichen Kirchbesuch ausgelassen. Es war ein Novembersonntag im letzten Jahr gewesen, da hatte der Vater Grippe gehabt. Einige Male im Jahr fuhren sie zur Zentralkirche, die einige Kilometer entfernt war. Aber dieser Sonntag war wie die meisten. Der Vater hatte schon am Abend vorher verkündet, dass sie in die Kirche im Ort gehen würden.
Von außen betrachtet unterschied sich das lokale Gemeindehaus kaum von einem gewöhnlichen Einfamilienhaus. Nur das Kreuz und ein