»Ich muss ihn nicht übertreffen. Ich kann versuchen, es anders zu machen.«
»In welcher Hinsicht?«
»Ich möchte einen ganz anderen Detektiv-Typen erfinden. Keinen Spurenleser, sondern einen Charakterkundler. Er soll den Fall intuitiv lösen, aber ohne dass er die Fakten ignoriert. Er interpretiert sie bloß auf seine Art. Er soll sich einen Begriff vom gesamten menschlichen Szenario machen, in dem der Mord passiert – und dann seine Schlüsse ziehen. Für mich heißt das, ich muss immer die Perspektive des Täters im Auge behalten, solange er der Einzige ist, der die Wahrheit kennt. Entlang dieser Perspektive muss ich erzählen, aber ohne die Zusammenhänge zu klären. Am Anfang der Geschichte müssen sie verdeckt bleiben, ebenso wie das wahre Motiv.«
»Wie kann man das im Dunkeln lassen – es gibt ja gar nicht so viele Motive. Und die liegen doch meist offen zu Tage«, sagte Clara. »Lass uns überlegen – was sind das für Leidenschaften, die einen Menschen bewegen zu morden? Geldgier, Machtgier, Rache, Angst, Eifersucht …«
»Und ›verschmähter Liebe Pein‹, so heißt es im Hamlet. O Mama, ich möchte so gerne ein Stück für die Bühne schreiben.«
»Das Drama – die Königsdisziplin. Dachtest du an ein Kriminalstück? Passt das denn, eine Mörderjagd und die Bühne?«
»Unbedingt. Schließlich ist Hamlet auch ein Krimi. Der Prinz ist zugleich ein Detektiv, er sucht den Mörder seines Vaters.«
»Ich dachte immer, Hamlet sei ein Drama über Melancholie und Lebensüberdruss.«
»Mag sein, aber vor allem ist das Stück ein spannender Krimi.«
»Man weiß doch gleich, wer der Mörder war, denn Hamlet bekommt einen Tipp aus dem Jenseits. Der Geist seines Vaters erscheint ihm und klärt ihn auf.«
»Schon richtig, aber jetzt muss Hamlet in der wirklichen Welt den Beweis führen. Nicht so einfach. Zumal der Mörder sehr schnell merkt, dass er verdächtigt wird und sich einerseits vorsieht, andererseits dem Detektiv nach dem Leben trachtet.«
»Aber das Motiv ist doch klar: Claudius will an die Macht, er will den Thron.«
»Mehr noch: Er will Gertrud, er will die Frau seines Opfers, Hamlets Mutter.«
»Oho. Und die will auch ihn?«
»Das ist ein Kniff von Shakespeare. Er lässt es offen. Aber man kann das Stück so lesen, Mama, dass der Mord ein Komplott war.«
»Und Hamlet, der das alles durchschaut, verfällt in Melancholie …«
»Ja, weil er sieht, wie stark das Böse in der Welt ist. Man kann keinen Krimi schreiben, glaube ich, ohne darauf zu sprechen zu kommen, wie stark das Böse in der Welt ist.«
»Liebes, hast du je mit Mr Christie darüber gesprochen, dass du auch in Zukunft schreiben willst?«
Agatha legte das Messer auf den Teller. »Mutter«, sagte sie, »warum nennst du meinen Mann Mr Christie? Sag doch wenigstens Archibald.«
»Er ist mir immer noch ein bisschen unheimlich. Und jetzt diese übereilte Heirat …«
»Nach einer Verlobungszeit von achtzehn Monaten sprichst du von ›übereilt‹?«
»Du weißt genau, was ich meine. Der Krieg ist kein Grund, sich in eine Ehe zu stürzen, die man dann gar nicht leben kann. Ihr seid doch so oder so gezwungen zu warten, ob mit Trauschein oder ohne.«
»Warten, warten, warten. Mir ist es inzwischen zuwider. Was hieltest du davon, wenn ich mir Männerkleider anziehen würde, mich zur Truppe meldete und zu Archie nach Frankreich ginge?«
»Haha! Shakespeares Mädchen in Hosen sind ja immer zauberhaft, aber nicht im Krieg, darling. Ich fürchte, du musst dir eher öfter mal eine Schürze umbinden und in der Küche helfen. Jane hat gekündigt.«
»Nein!« Agatha warf die Gabel hin. Sie hatte von einem Moment auf den anderen keinen Appetit mehr. »Das kann sie nicht machen, nein, Mama.«
»Doch, sie kann. Ihr Bruder ist pflegebedürftig geworden und braucht sie. Sie wird zu ihm ziehen.«
Im Lazarett wurde eine neue Abteilung gegründet – eine Apotheke. Sie war im Stadtkrankenhaus untergebracht. Die Hilfsdienstleistenden konnten sich dort in einem Kursus zur Apothekenhelferin ausbilden lassen, richtig mit Abschlussprüfung. Agatha war sofort interessiert. Pharmazie hatte ihr immer schon gefallen, die geheimnisvolle Welt der Wässerchen, Essenzen, Pulver und Giftpflanzen – gern wollte sie mehr darüber wissen. Also wechselte sie in die neue Abteilung und belegte den Lehrgang. Sie tat das auch, weil sie wusste, dass Archie ihr Engagement auf der Lazarettstation scharf missbilligte. »Warum sollst du dich dort abmühen und so viel Schreckliches miterleben?«, fragte er sie. »Du kannst dich doch auf andere Art nützlich machen.« Das tat sie jetzt. Die Lehrerin »begann mit der Theorie«, erzählte Agatha später, »nicht mit der Praxis. Plötzlich mit Atomgewichten und Steinkohleteer-Derivaten konfrontiert zu sein, das konnte für mich nur in völliger Verwirrung enden. Aber schließlich fand ich mich doch zurecht und begriff die einfachen Fakten. Und nachdem uns bei einer Probe zum Nachweis geringer Arsen-Mengen unsere Kaffeemaschine explodiert war, machte ich recht gute Fortschritte.«
Agatha mit ihrem ersten Ehemann, Archibald Christie (1889–1962).
Die Gifte! Arsen, Zyankali, Curare – Agatha musste unbedingt wissen, wie sie wirkten, was sie im menschlichen Körper anrichteten und was für Spuren sie hinterließen. Sie plante einen Giftmord – auf dem Papier, in ihrem Krimi. Während sie Substanzen abwog und mischte, wanderten ihre Gedanken zu ihrem neuen Roman, und sie ersann einen Plot. Aber sie rief sich immer wieder zur Ordnung und zur Konzentration auf die Pharmazeutika. Der größte Teil ihrer Arbeit in der Lazarett-Apotheke galt zwar harmlosen Stoffen, die zu Medikamenten zusammengerührt wurden, aber auch hier kam es auf Genauigkeit an und somit auf größte Sorgfalt. »Als Amateure in der Spitalarbeit bereiteten wir alle Arzneien mit äußerster Präzision zu. Wenn der Arzt zwanzig Gran Wismutkarbonat für eine Dosis verschrieb, bekam der Patient genau zwanzig Gran. Das war richtig so, eben weil wir Amateure waren, aber ich kann mir gut vorstellen, dass ein Apotheker, der fünf Jahre studiert hat und einen akademischen Grad besitzt, sein Handwerk ebenso perfekt beherrscht wie eine Köchin das ihre. Mit großer Selbstverständlichkeit mischt er die Ingredienzen, ohne alles abzumessen oder zu wiegen. Er weiß es einfach. Bei Giften und gefährlichen Drogen ist er natürlich sehr genau, aber harmloses Zeug kommt in ungefähren Mengen dazu. Ähnlich geht es auch bei Färbemitteln oder Würzessenzen zu. Er macht es Pi mal Daumen.« Agatha führte ein Notizbuch, in dem sie die besonderen Eigenschaften verschiedener Substanzen aufschrieb, ihre Gerüche, Konsistenzen und Reaktionen an der Luft und im Wasser. ›Wer weiß, wann ich je wieder so tief in diese mysteriöse Welt hineingucken kann‹, sagte sie sich. Antimon, Belladonna, Digitalis, Morphium, Strychnin – so hießen die Überschriften in ihrem Büchlein. Als die Prüfung vor der Apotheker-Gilde anberaumt wurde, war Agatha ziemlich nervös. Sie hatte mehr Gewicht auf ihre Privatstudien gelegt und den Lehrplan nicht so ernst genommen. Aber sie bestand trotzdem – allerdings knapp. Bald darauf meldete sie sich bei der Handelsschule für einen Kursus in Stenografie und Maschineschreiben an. Die Kurzschrift lag ihr gar nicht, aber beim Maschineschreiben kam sie gut voran.
Wenn Archie einen seiner kurzen Urlaube erhielt, traf sich das Paar mal in London, mal in einem kleinen verschwiegenen Ort, bezog ein Hotel und feierte die zweite, die dritte und die vierte Hochzeitsnacht. Sie hatten so wenig Zeit füreinander gehabt, und es sah nicht so aus, als ob sich das bald ändern würde – der Krieg zog sich hin, er schien keineswegs jener begrenzte Waffengang zu sein, als den ihn die britische Presse und das Kriegsministerium eingeschätzt hatten. Archie war zum Bataillonskommandanten befördert und erneut wegen besonderer Tapferkeit ausgezeichnet worden. Agatha gegenüber spielte