Die junge Miss Miller war ein introvertiertes Mädchen, sie hatte, wie sie in ihren Memoiren bedauert, kein Talent für small talk und fühlte sich »in Gesellschaft« stets gehemmt. Das hat sich nie geändert. Als sie längst eine weltberühmte Schriftstellerin war, brauchte sie immer noch eine Art Autosuggestion oder auch ironische Anfeuerung, die sie sich vor Auftritten in der Öffentlichkeit selbst zuflüsterte: »Das ist Agatha, die so tut, als wäre sie eine erfolgreiche Autorin, die jetzt zu ihrer eigenen großen Party geht, die so aussehen muss, als wäre sie eine Persönlichkeit und eine Rede halten soll, die sie nicht halten kann und überhaupt etwas sein muss, was sie nicht ist.« Wahrscheinlich war es ihr überreiches Innenleben, ihre ausschweifende Phantasie, die ihr im Wege standen, wenn sie sich im wirklichen Leben inszenieren oder auf Herausforderungen reagieren sollte. Wurde ihr zum Beispiel ein junger Mann vorgestellt, so dachte sie sich sofort einen Lebenslauf und ein Schicksal für ihn aus, anstatt ihm in die Augen zu schauen und Fragen zu stellen. Sie wich aus in ihre Vorstellungswelt und verweigerte so die Realität. Einer ihrer Tanzpartner während der »Saison« sprach mit Clara über sie, er lobte ihr Aussehen und ihren Tanzstil und fügte hinzu: »Jetzt sollte sie auch noch reden lernen.« Dennoch hatte Agatha an den Kairoer Bällen und Geselligkeiten ihren Spaß. Sie erwartete nicht von sich, als Ballkönigin aufzutrumpfen. Sie stand gerne auch mal daneben und sah zu. Oft hatte sie das Gefühl, dass sie bei all diesen Vergnügungen, um die so viel Aufhebens gemacht wurde, nur eine Nebenrolle spielte. Zugleich hoffte sie insgeheim, dass ihre Stunde irgendwann schlagen würde. Zumal sie wusste, dass sie gut aussah: groß, schlank, mit einem ausdrucksvollen Gesicht, über dem eine Krone dichter blonder Locken glänzte. In Kairo hatte sie Gelegenheit, ein gutes Quantum an femininer Selbstsicherheit zu entwickeln – es gab einen Ball nach dem anderen, das rosa Satinkleid musste immer wieder aufgebügelt werden. Agathas Tanzkarte war meistens gut gefüllt, sie erhielt sogar zwei ernst gemeinte Heiratsanträge. Höflich lehnte sie ab. Am Ende ihrer Kairoer Saison konnte sie sich als eingeführte junge Dame fühlen, bereit und fähig, einem interessanten und gut situierten Ehemann das Haus zu führen. Möglichst in Torquay.
Zurück in England überdachte Agatha ihre Lage. Nein, lange wollte sie mit der Eheschließung nun nicht mehr warten. Ihre Schwester Madge hatte ein Jahr nach ihrer Heirat einen kleinen Jungen geboren, Clara und Agatha nahmen immer wieder die Gelegenheit wahr, die Familie Watts auf Abney Hall zu besuchen und sich um das Kind zu kümmern, während Madge einen ihrer geliebten London-Trips unternahm, und Agatha bekam eine Ahnung von den Freuden der Mutterschaft. Sie war ihrem Neffen Jack zärtlich zugetan und fand große Freude daran, Spiele, Lieder und Reime für ihn auszudenken. Sie hatte ja nun ihrerseits eine ganze Reihe treuer Verehrer, unter denen Reggie, der es zum Major bei den Kanonieren gebracht hatte, ihr am besten gefiel. Und es geschah in der Tat, dass der junge Mann kurz nach seiner Rückkehr aus Hongkong um ihre Hand anhielt. Agatha war gerührt und sagte Ja. Reggie vergalt es ihr mit einem scheuen Kuss und fügte hinzu, dass er die nächste Zeit im Ausland stationiert sein würde und sie deshalb mit der Hochzeit noch warten müssten. Zu Agathas Ideal leidenschaftlicher Liebe passte ein solcher Aufschub nicht. Sie bat ihren Zukünftigen, doch eine baldige Heirat ins Auge zu fassen. Aber der sprach von Verpflichtungen, die leider bindend seien. Agatha senkte den Kopf. Sie hatte Ja gesagt, und er fuhr erstmal weg. War das Liebe? Doch Reggie war fair. Er wollte sie nicht nötigen, herumzusitzen und nur auf ihn zu warten. »Geh nur aus und vergnüge dich«, sagte er, »und wenn du einen anderen findest, habe ich eben Pech gehabt.« Spätestens jetzt wuchs sich Agathas Enttäuschung zur Abwehr aus. Sie wahrte die Form, sie stimmte zu, aber sie dachte bei sich: ›Das kannst du haben!‹ Dennoch akzeptierte sie, dass das, was Reggie und sie zustande gebracht hatten, eine Verlobung war.
Clara mochte Reggie gern, sie beglückwünschte Agatha zu ihrer Wahl. Zwar hatte sie auf einen vermögenden Schwiegersohn gehofft, und Reggie hatte nur seinen Sold, aber wichtiger war ja doch, dass Herz zum Herzen fand. Was aber das Herz betraf, war Agatha sich nicht mehr sicher.
»Was ist mit dir, darling?«, fragte Clara und warf noch ein Scheit in den Kamin, »du hast Post von deinem Verlobten und machst den Brief nicht auf?«
»Was Briefe betrifft«, antwortete Agatha und putzte sich die Nase, »ist Reggie nicht gerade die Nr. 1. Wenn ich da an Boltons Briefe denke … Die reinste Dichtkunst dagegen.«
»Vielleicht hat er die Briefe von einem Schriftsteller schreiben lassen, so à la Cyrano de Bergerac?«, erwog Clara.
»Meinst du wirklich?«
»Aber ja, das ist sehr wahrscheinlich. Die Herren haben doch gar nicht Zeit dafür und oft auch nicht die Gabe, mit geschriebenem Wort das Herz eines Mädchens zu rühren. Vor allem nicht, wenn sie beim Militär sind. Bei einem unbeholfenen Brief bist du wenigstens sicher, dass der Junge ihn selbst geschrieben hat.«
»Du willst nur, dass ich gut von Reggie denke, Mami, ich verstehe. Aber ich zweifle wirklich, ob er der Richtige ist.«
»Zweifeln ist deine Lieblingsbeschäftigung, Herzchen. Irgendwann musst du damit aufhören.« Agatha starrte ins Kaminfeuer. Eine Weile sagte sie nichts. Dann: »Mama, ich fürchte, er würde nicht wollen, dass ich singe.«
»Darauf wollte ich dich ansprechen, Tochter. Du erinnerst dich an die Fishers, Freunde von Papa aus New York –«
Es war sonst nicht ihre Art, der Mama ins Wort zu fallen, aber jetzt tat sie es.
»Wenn ich die Mimi singe oder die Margarete, dann bin ich in einer eigenen Welt. Und ganz anders als am Piano stört mich das Publikum nicht. Im Gegenteil, ich kann es anschauen, wenn ich eine Koloratur anstimme. Mama, in diese Welt müsste mein Ehemann mich gehen lassen, hörst du, und wenn er dazu nicht imstande wäre …«
»Davon will ich ja gerade reden«, sagte Clara, »von dieser eigenen Welt. Ich treffe mich morgen mit den Fishers. Sie sind hier in Begleitung einer sehr wichtigen Persönlichkeit, einer Dame mit besten Beziehungen zur Metropolitan Opera, sie unterrichtet dort den Nachwuchs. Ich habe die Fishers gebeten, sie zu fragen, ob du ihr vorsingen könntest. Ob sie bereit wäre, dich anzuhören und ein Urteil abzugeben. Sie hat Ja gesagt, und das ist ein großes Entgegenkommen. Na, was sagst du? Wenn du schon immer so viel zweifelst – vielleicht kann diese Gesangslehrerin deine Zweifel zerstreuen?«
Es kam anders. Die Gesangslehrerin zerstreute nicht Agathas Zweifel an ihrem Talent, sondern ihre Gewissheit, zur Sängerin geboren zu sein. Sie habe eine gut gebildete, schöne Stimme, sagte die Amerikanerin, und zu einer passablen Konzertsängerin würde es reichen. Aber nicht für die Bühne. Dafür fehle Agatha das Volumen, vor allem in der mittleren Lage. Und darauf komme es an. Agatha weinte auf dem Heimweg, sie weinte