Matthias musste ebenfalls lachen. »War es wirklich so schlimm?«
»Schlimmer!«, bestätigte Luzia und rannte Richtung Mohrenwirt davon.
Sonnwendküchlein gab es tatsächlich, aber beide aßen nur sehr wenig davon. Dafür sprachen sie dem Met etwas ausgiebiger zu. Der heiße Honigwein rann ihnen die Kehlen hinunter und erzeugte einen leichten Schwindel.
»Lass uns tanzen!«, schlug Matthias übermütig vor. Gemeinsam schlossen sie sich dem tanzenden Reigen an. Männer und Frauen hielten sich an den Händen und umtanzten das Feuer. Auch Magdalena und Hans hatten sich bereits unter die Tanzenden gemischt. Luzia freute sich, als sie die beiden ausgelassen lachen sah.
Der Klang der Fiedel trieb sie zu immer schnelleren Drehungen an. Die jungen Leute lachten und tanzten so ausgelassen, dass manch einem schwindlig wurde. Doch müde durfte man ein andermal werden. Heute war die Nacht zu schade. Lau und süß flüsterte sie so den Menschen Unerhörtes ins Ohr. Als das Feuer kleiner wurde, begannen die jungen Leute durch die reinigenden Flammen zu springen. Die Flammen des Sonnwendfeuers galten als heilig. Sie schützten die, die durch sie hindurchsprangen, im neuen Jahr vor Krankheit und Leid. Im warmen Feuerschein glitzerten Luzias tiefblaue Augen dunkel und unergründlich. Lächelnd nahm sie ein paar Finger voll Teufelsklau aus ihrer Tasche. Im Alltag puderte sie damit rote Kinderpopos. Ins Feuer geworfen, knallte der Sporenstaub des Keulenbärlapps und glühte hell auf.
Matthias lachte. »Seit wann kannst du denn zaubern?«
»Das würdest du wohl gerne wissen!« Luzia beugte sich ganz nah an Matthias Ohr. »Schon immer. Hast du das denn nicht gewusst?«, flüsterte sie geheimnisvoll, während ihre weichen Lippen die erhitzte Haut seines Nackens streiften.
Matthias stand in Flammen. Eine prickelnde Gänsehaut umfing ihn von den Zehen bis zu den Haarspitzen. Luzias geheimnisvolles Lachen klang in seinen Ohren warm, süß und verlockend. Nur eine Handbreite trennte ihn jetzt noch von ihrem Mund. Doch bevor er sie küssen konnte, entzog sie sich ihm und tanzte allein um das kleiner werdende Feuer.
Matthias lief ihr nach und sprang neben Luzia durch die Flammen. Er beobachtete sie von der Seite. Ihr Haar schien in Flammen zu stehen. Der helle Feuerschein brachte die langen, roten Flechten zum Leuchten. Manchmal glaubte er an ihr etwas Geheimnisvolles zu entdecken, als sei sie eine weise Frau, die das Wissen längst vergangener Zeiten in sich trug. Dann schienen ihre Augen unendlich tief wie zwei Seen. Er meinte dann zu sehen, wie sich zwei schwarze Rädchen in atemberaubender Geschwindigkeit um die Pupille drehten und jeden hineinzogen, der ihr zu nahe kam. In solchen Momenten kamen ihm die Augen der Hebamme geheimnisvoll und wissend vor. Aber bevor er sich vergewissern konnte, verschloss sich ihr Blick wieder und er meinte, sich getäuscht zu haben.
»Fang mich, wenn du kannst!«, rief sie übermütig und rannte vor ihm davon.
Matthias setzte ihr nach und packte sie am Arm. »Hab dich! Wenn du denkst, du kannst mir entkommen, liegst du falsch!« Niemals würde er sie entkommen lassen. Er wollte sein Leben mit ihr verbringen.
Gemeinsam rannten sie wieder zum Karren des Mohrenwirts und ließen sich dort erschöpft unter einer Weide nieder.
Matthias war glücklich. So war es immer, wenn er mit Luzia zusammen war. Leicht und selbstverständlich wie ein Herzschlag. Er drehte sich zu ihr herum. Der warme Feuerschein zauberte einen goldenen Schimmer auf ihre Haut, die vom vielen Tanzen glühte. Dankbar sog Matthias den warmen Duft nach Kräutern und Honig ein, der ihrer erhitzten Haut entströmte. Genauso roch Luzia. So hatte sie schon vom allerersten Tag an gerochen, an dem er sie gesehen hatte.
Ermutigt durch das Lächeln, das sie ihm schenkte, erhob er sich, klemmte die zerzausten Locken hinter die Ohren und trat von einem Bein auf das andere.
Sicher wäre jetzt der richtige Moment, Luzia zu fragen, ob sie seine Frau werden wollte. Er holte tief Luft, um die Worte zu sprechen, doch als Luzia ihn fragend ansah, verließ ihn der Mut wieder.
3
Fast zwei Monate später, am 6. des Erntemonats, brachte ein vorbeiziehender Handelsreisender einen Brief für Luzia. Er kam von ihrem Onkel Basilius Gassner in Ravensburg.
Jakob und Elisabeth baten den grauhaarigen Mann und seine beiden Söhne ins Haus und boten den verschwitzten Männern einen Krug Dünnbier und Brot an.
»Wie lange seid Ihr denn schon unterwegs?«, fragte Jakob und setzte sich zu den Leuten an den Tisch.
»Erst seit zwei Tagen. Wir hatten in Altdorf zu tun und wollen nun weiter in das Land der Eidgenossen.«
Jakob nickte. »Ich dachte nur wegen des Briefes. Hoffentlich enthält das Schreiben keine schlechten Nachrichten.«
Der ältere Mann hob bedauernd die Schultern und setzte den Becher ab, den er durstig geleert hatte. »Diese Hoffnung kann ich Euch leider nicht lassen, der Apothekarius, der mir den Brief gegeben hat, klang sehr besorgt. Ich musste ihm versichern, Seefelden in spätestens zwei Tagen zu erreichen. Der Inhalt des Schreibens scheint von großer Wichtigkeit zu sein.«
Elisabeth drehte das gesiegelte Schreiben nervös zwischen ihren Fingern hin und her. Sie hatte die große Schrift ihres Bruders Basilius gleich erkannt. Wenn er schrieb, dann musste es um etwas Wichtiges gehen.
»Wo ist Luzia denn?«, wollte Jakob wissen, ehe er sich wieder erhob und zum schmalen Fenster ging, von dem aus er die Straße überblicken konnte. Auch ihm stand die Sorge ins Gesicht geschrieben.
»Bei den Metzgers«, antwortete Elisabeth und füllte den Bierkrug der Besucher ein weiteres Mal. »Die Sofia bekommt ihr Kind. Aber sie ist schon seit den frühen Morgenstunden fort. Allzu lange kann es nicht mehr dauern.« An den Reisenden gewandt, fuhr sie fort: »Hat Euch Basilius denn gar nichts gesagt?«, fragte sie.
Der Fremde schüttelte den Kopf. »Nein. Nur, dass es sehr dringend sei.«
»Ich weiß, dass dieses Pergament schlechte Nachrichten enthält! Ich kann es fühlen«, flüsterte Elisabeth mehr zu sich. Dabei flackerten ihre wachen, blauen Augen voller Angst. Es half auch nicht, dass Jakob ihre Hand nahm.
Der grauhaarige Handelsreisende erhob sich. »Ich glaube, wir sollten langsam gehen«, sagte er und räusperte sich in Richtung seiner Söhne. Die warfen sich Blicke zu, stopften sich eilig die letzten Bissen in den Mund und standen ebenfalls auf. Sie fühlten sich in dem kleinen Haus, welches ihnen vorher so gemütlich erschienen war, nicht mehr recht wohl. Da schien sich etwas zusammenzubrauen und sie wollten auf keinen Fall dabei sein, wenn dieser unheimliche Brief geöffnet wurde. »Wir danken Euch für Eure Gastfreundschaft. Gott sei mit Euch.« Damit waren sie schon aus der Tür.
Als Luzia wenig später von Sofia kam, währte die Freude über die gesunde Tochter der Mezgers nicht lange. Auch sie ahnte gleich, dass der Brief nichts Gutes enthielt. Mit zitternden Fingern brach sie das kleine, rote Siegel der Gassners. Hastig überflog sie die Zeilen.
Liebste Luzia, liebe Elisabeth, werter Jakob, es tut mir sehr leid, dass ihr diese Zeilen lesen müsst. Ich hätte sie euch gerne erspart! Aber es hilft alles nichts, also werde ich nicht lange um den heißen Brei herumreden. Luzia, deine Mutter ist gestorben.
Luzia merkte, wie die Buchstaben vor ihren Augen verschwammen. Wieder und wieder las sie dieselben Zeilen: Deine Mutter ist gestorben.
Luzia spürte Tränen in ihren Augen brennen. Mühsam versuchte sie den Kloß, der in ihrer Kehle saß, hinunterzuschlucken. Doch es gelang ihr nicht. Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf, sie ließ das Schreiben sinken, weil die Buchstaben vor ihren Augen verschwammen. Der Raum um sie herum schien sich zu drehen. Mit einem leisen Schrei war Elisabeth bei ihr und fing sie auf, als sie zu fallen drohte. Neben den besorgten Fragen ihrer Tante vernahm sie aus den Tiefen ihres Kopfes eine Stimme aus längst vergangenen Tagen. Luzia erkannte den Tonfall, das leise Zischen der einzelnen Laute sofort. Auf ihrem Rücken tobte ein Feuer. Brennender Schmerz erfasste ihre Schulterblätter und breitete sich immer weiter aus. Sie hatte das Gefühl von rinnendem Blut, welches ihr über Rücken