Als Carola die Tür aufsperrt, schlägt ihr widerlicher Geruch entgegen. Jarolim wird doch nicht … Carola rückt die Brille zurecht und inspiziert jeden Winkel des Vorraums. Da! Nein, das ist bloß der Schatten des Schirmständers. Sie betastet Schuhe, Pantoffel und den Fleckerlteppich. Nichts. Jari! Schon kommt es angehoppelt, das dreibeinige Monster und schaut sie erwartungsvoll an. Normalerweise lässt sich Jari nach so einem Fehltritt nicht blicken, wartet erst ihre Schimpftiraden ab. Deshalb hält Carola Nachschau im Badezimmer. Oh Gott! Jarolim hat Durchfall. Das Katzenklo ist übervoll! Ein Wunder, dass er sich noch keine Alternative gesucht hat. Rasch holt Carola einen großen Plastiksack, in den sie die gesamte Streu hineinkippt, und stellt ihn vor die Tür.
Carola weiß, dass sie den stinkenden Sack augenblicklich entsorgen sollte, aber sie ist zu mitgenommen, um erneut die vielen Stufen hinunter- und hinaufzugehen. Deshalb öffnet sie bloß die Fenster der Pawlatschenveranda vor ihrer Wohnung und schließt die Tür. Sie füllt frische Streu nach, wäscht die Hände und schlurft in die Küche. Sie braucht Tee. Auch so eine Angewohnheit, die neu ist. Ihre Geschmacksnerven müssen umgepolt worden sein. Moderten früher Earl-Grey-Packungen jahrelang vor sich hin, ist Tee nun ihr bevorzugtes Getränk, getreu dem Motto ihrer Mutter: Tee trink i nur, wenn i krank bin. Doch dass sie den heißgeliebten Kaffee nicht mehr verträgt, ist ärgerlich. Riechen tut sie ihn allerdings nach wie vor gern. So steht denn auch wenig später neben der dampfenden Teetasse eine Schale Kaffee, deren Duft Carola mit geblähten Nasenflügeln einsaugt, ehe sie in kleinen Schlucken die vom Bioladen empfohlene Hochlandmischung trinkt. Hilft’s nichts, schadet’s auch nicht.
Carola schreckt auf. Sie muss eingenickt sein. Direkt am Küchentisch. Sie versucht, sich zu sammeln, ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Irgendetwas hat sie irritiert. Sie hört Jarolim fauchen und dazwischen Klopfgeräusche. Benommen rappelt sich Carola hoch und tapst ins Wohnzimmer. Sprungbereit lauert Jarolim am Fenster, vor dem an einer roten Kordel befestigt eine Karteikarte hängt, die der Wind immer wieder gegen die Scheibe weht. Herr Nierlich! Carola kann sich denken, was da in pedantisch leserlicher Schrift steht. Trotzdem öffnet sie das Fenster und löst die Karte von der Schnur. Oje, diesmal ist sie vorne und hinten beschrieben.
Werte Frau Dr. Broggiato!
Darf ich Sie erneut an die wesentlichen Vorschriften des Nachbarschaftsrechts erinnern. Darin ist festgehalten, dass ›Einwirkungen durch Abwässer, Rauch, Gase, Wärme, Geruch, Geräusch, Erschütterungen und Ähnliches insoweit‹ untersagt werden können, ›als sie das nach den örtlichen Verhältnissen gewöhnliche Maß überschreiten‹. Ich weiß, Sie sind keine Juristin, daher hier eine für Sie verständliche Erläuterung des an sich glasklaren Gesetzestextes: In einer bäuerlichen Gegend habe ich das Ausbringen von Gülle zu dulden, da diese Tätigkeit und deren Emissionen ›ortsüblich‹ sind. Im ersten Wiener Gemeindebezirk, der noch dazu die Bezeichnung INNERE STADT trägt, muss ich den bestialischen Geruch, der von Ihrer Veranda zu mir aufsteigt, keineswegs dulden, sondern überlege nunmehr ernsthaft eine Unterlassungsklage. MfG
Für die Unterschrift war kein Platz mehr, für ausgeschriebene Höflichkeiten schon gar nicht. Eilig reißt Carola ein Blatt vom Notizblock. Ich trage den Mist gleich hinunter, schreibt sie darauf, heftet den Zettel mit einer Büroklammer an die Karteikarte, windet darum die Kordel und verknüpft sie, so fest sie nur kann, damit die Post auf ihrem Weg in den nächsten Stock nicht verlorengeht. Sie zupft an der Schnur. Umgehend wird diese nach oben gezogen. Herr Nierlich sitzt dort und wartet wahrscheinlich schon eine halbe Stunde auf Antwort, statt wie jeder vernünftige Mensch an ihrer Tür zu läuten oder sie anzurufen. Gerade als sich Carola umdrehen will, um auf die Veranda zu gehen, bemerkt sie, dass erneut etwas heruntergelassen wird und Jarolim Taubenfang-Knurrgeräusche von sich gibt. Seufzend öffnet sie das Fenster. In Großbuchstaben schreit sie die Frage WIE LANGE DAUERT IN IHREM UNIVERSUM ›GLEICH‹? an. Nun reitet Carola der Teufel. 2 bis 12 Minuten, fetzt sie in nahezu unleserlicher Schrift darunter. Die Antwort erfolgt prompt: Ich gebe Ihnen 3 (in Worten: drei) Minuten. Die Zeit läuft.
Carola verzichtet auf einen weiteren Kommentar, doch ehe sie die Steinchen des Anstoßes hinunter zu den Mistkübeln schleppt, nimmt sie einen Schluck vom mittlerweile kalten Tee. Dieser komische Nierlich kann sie kreuzweise. Soll sich einmal persönlich vorstellen und keine Karteikarten beschriften. Sie weiß ja nicht einmal, wie er aussieht. Lebt verkrochen in seiner Höhle unterm Dach. Bewegen tut er sich auch nicht viel. Carolas Gehör funktioniert immer noch bestens, sie würde die Schritte hören, doch da ist kaum je Betrieb über ihr. Ein komischer Kauz.
Als sie nach gestoppten sieben Minuten – so viel wortloser Protest muss sein – den Deckel des Mistkübels sorgsam verschließt, in der Hoffnung, dass der Gestank von Jarolims Scheiße diese Barriere nicht überwinden kann, bekommt sie das heulende Elend. Ohne Vorwarnung, übergangslos wird sie von peinlich lauten Schluchzern gebeutelt. Warum gerade jetzt? Nicht beim Kraulen von Jaris Bauch, nicht beim Anblick seines schwarzgrauen Fells, nicht beim zarten Tupfen auf sein rosa-schwarzes Näschen, nein ausgerechnet hier, angeekelt von einem übel riechenden Sack, fragt sie sich, was denn aus Jari werden soll, wenn es sie nicht mehr gibt. Wer nimmt schon einen dreibeinigen Kater? Wen außer sie soll Jari mit seinem mürrischen Altherrencharme für sich einnehmen? Vielleicht geht er vor ihr ein? Mit dem Ärmel wischt Carola über ihr verheultes Gesicht. Keine Chance. Erst jüngst meinte die Tierärztin, er sei für sein Alter prächtig beisammen, was nicht viel heißt, denn wie alt Jarolim tatsächlich ist, weiß Carola nicht. Ein verletzter Kater, der von einem Auto angefahren wurde, stellt sich nicht vor, sondern faucht einmal gehörig, wenn eine fremde Frau sich ihm nähert. Nun muss Carola lächeln, während sie an ihre ungelenken Versuche denkt, Jari hochzunehmen und im Wagen zu verstauen. Im nächsten Dorf wusste niemand, wem das Tier gehörte, aber sie könne des Viech ja dalassen. Es würde ohnedies krepieren. Wie sie selbst, ergänzte Carola im Stillen. War es diese Parallele, die sie bewog, den Kater ins Tierspital zu fahren? Vier Chemo-Serien und den ersten Ausflug seit Monaten hatte sie gerade hinter sich gebracht. Da konnte sie nicht zulassen, dass ein Kater starb. Für Augenblicke verknüpfte sie sogar sein Schicksal mit dem ihren. Wenn er überlebte, dann könnte doch auch sie … Er hat überlebt, während sie … Den Kater zu retten, war strohdumm von ihr. Und nun hat sie das Vieh sogar liebgewonnen. Die alte Hofrätin wird schrullig. Ach was. Er passt zu ihr: behindert, eigensinnig, doch mit unbändigem Lebenswillen. Ja. Und deshalb wird sie nun flott nach oben gehen, sich an den Schreibtisch setzen und recherchieren. Toni mag die Finger vom Verdrüsslichen lassen, Carola Broggiato bleibt dran.
XI.
Gitta legt den Hörer auf. Die Psychiaterin hat sie am Nachmittag eingeschoben. Das wäre einmal erledigt. Die Augen müssen warten. Sie kann nicht den ganzen Tag in Ordinationszimmern zubringen. Das Jucken hat ohnedies nachgelassen. Vielleicht klingen die Beschwerden von alleine ab. Aber was macht sie mit Bernhard? Soll sie ihn mitnehmen? Paul redet gerade mit ihm, doch bald wird er gehen. Zwei gepackte Reisetaschen stehen im Vorraum. In der einen frische Wäsche, in der anderen ein sorgsam in Decken gewickelter Holzengel, das teuerste Stück, das in der Wohnung verblieben ist. Warum nimmt er den Engel mit? Um ihn zu verkaufen? Ihn anderswo aufzustellen? Gitta ist beunruhigt, nicht, weil Paul sie verlässt, das auch, vielleicht, sie muss erst darüber nachdenken. Wenn nicht die vielen anderen Aufgaben wären! Die muss sie nun zusätzlich übernehmen, kann nicht warten, bis Paul kommt. Nur irgendwann wird er zurückkehren. Oder?
Erneut schaut Gitta auf Pauls Gepäck. Der Engel, warum gerade er? Die verdammte Erbschaft! Eine einzige große Kränkung. Noch heute fühlt sich Paul um seinen Anteil betrogen, hat aber nie etwas dagegen unternommen. Wegen Rechtsanwalt Dr. Gaidosch, dem neuen Geschäftsführer? Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, meinte Paul, als Gitta vorgeschlagen hatte, das Testament anzufechten. Wahrscheinlich hatte er recht. Wäre der von Pauls Vater eingesetzte Dr. Gaidosch ein Lehrer, Arzt oder Apotheker, dann ja, aber so … Auch als Dr. Gaidosch Paul drängte, die wertvolleren Objekte seines Erbes leihweise der Familienstiftung zu überlassen, hatte sie kein gutes Gefühl. Es stimmt schon, in den klimatisierten und alarmgesicherten Räumen, die extra dafür eingerichtet wurden, sind der Messerschmidt-Kopf