George Orwell: 1984. George Orwell. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: George Orwell
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783868208955
Скачать книгу
Absatz der Rede des Großen Bruders so umzuschreiben, dass er eben das vorhersagte, was tatsächlich geschehen war. Im zweiten Fall hatte die Times vom 19. Dezember die offiziellen Prognosen für die Produktion verschiedener Konsumgüter im vierten Quartal 1983 veröffentlicht, das gleichzeitig auch das sechste Quartal des neunten Dreijahresplans war. Die heutige Ausgabe enthielt eine Aufstellung über die tatsächliche Produktion, aus der hervorging, dass die Prognosen für sämtliche Sparten komplett danebengelegen hatten. Winstons Aufgabe war es, die ursprünglichen Zahlen so richtigzustellen, dass sie mit den späteren übereinstimmten. Was die dritte Anweisung betraf, so bezog sie sich auf einen sehr einfachen Irrtum, der innerhalb von ein paar Minuten korrigiert werden konnte. Noch im Februar hatte das Ministerium für Fülle eine Versicherung abgegeben (ein »kategorisches Versprechen«, so der offizielle Wortlaut), dass es im Jahr 1984 keine Kürzung der Schokoladenration geben würde. In Wirklichkeit sollte, wie Winston nun wusste, die Schokoladenration Ende dieser Woche von dreißig auf zwanzig Gramm herabgesetzt werden. Hier brauchte man nun nichts weiter zu tun, als das ursprüngliche Versprechen durch einen Hinweis zu ersetzen, dass es wahrscheinlich notwendig sein würde, die Ration irgendwann im April zu kürzen.

      Sobald Winston sich mit einer Anweisung befasst hatte, heftete er seine sprechgeschriebenen Korrekturen an die entsprechende Ausgabe der Times und schob sie in die Rohrpost. Dann zerknüllte er mit einer beinahe unbewussten Bewegung die ursprüngliche Anweisung sowie jegliche Notizen, die er dazu gemacht hatte, und warf sie in das Gedächtnisloch, um sie von den Flammen verzehren zu lassen.

      Was in dem unsichtbaren Labyrinth geschah, zu dem die Rohrpostleitungen führten, war ihm nicht im Detail, sondern nur in groben Zügen bekannt. Sobald alle Korrekturen, die für eine bestimmte Ausgabe der Times erforderlich waren, zusammengetragen und prüfend verglichen worden waren, wurde diese Ausgabe neu gedruckt, das Original vernichtet und die korrigierte Ausgabe an ihrer Stelle ins Archiv eingestellt. Dieser kontinuierliche Änderungsprozess wurde nicht nur auf Zeitungen angewandt, sondern auch auf Bücher, Zeitschriften, Broschüren, Plakate, Flugblätter, Filme, Tonspuren, Cartoons, Fotografien – auf jede Art von Literatur oder Dokumentation, die irgendeine politische oder ideologische Bedeutung haben könnte. Jeden einzelnen Tag und beinahe minütlich wurde die Vergangenheit auf den neuesten Stand gebracht. Auf diese Weise konnte durch dokumentarische Beweise nachgewiesen werden, dass jede Vorhersage der Partei richtig gewesen war, und es durften natürlich auch keine Aufzeichnungen über Nachrichten oder Meinungsäußerungen aufgehoben werden, die den augenblicklichen Gegebenheiten widersprachen. Die gesamte Geschichte war ein einziges Palimpsest, das so oft wie nötig gereinigt und neu beschrieben wurde. In keinem der Fälle wäre es möglich gewesen, nach Durchführung der Aufgabe zu beweisen, dass eine Fälschung stattgefunden hatte. Die größte Sektion der Dokumentationsabteilung, weitaus größer als die, in der Winston arbeitete, bestand aus Menschen, deren Aufgabe es war, alle Ausgaben von Büchern, Zeitungen und anderen Dokumenten, die überholt waren und zur Vernichtung anstanden, aufzuspüren und zu beschaffen. Eine Ausgabe der Times, die aufgrund von Veränderungen in der politischen Ausrichtung oder irrtümlichen Prophezeiungen des Großen Bruders vielleicht ein Dutzend Mal umgeschrieben worden war, stand nichtsdestoweniger mit dem ursprüngliche Datum im Archiv, und es existierte nirgendwo eine andere Ausgabe, die mit ihr im Widerspruch stand. Auch Bücher wurden immer wieder aus dem Verkehr gezogen und umgeschrieben und ohne jeglichen Hinweis auf vorgenommene Veränderungen neu aufgelegt. Sogar in den schriftlichen Anweisungen, die Winston erhielt und die er sofort vernichtete, sobald er sich mit ihnen befasst hatte, wurde nie erwähnt oder angedeutet, dass eine Fälschung vorgenommen werden sollte: Es handelte sich immer um Versehen, Irrtümer, Druckfehler oder falsch Zitiertes, die im Interesse der Genauigkeit korrigiert werden mussten.

      Aber eigentlich, dachte er, als er die Zahlen des Ministeriums für Fülle anpasste, war es ja gar keine Fälschung. Es wurde lediglich ein Unsinn durch einen anderen ersetzt. Der größte Teil des Materials, das man bearbeitete, stand in keinerlei Zusammenhang mit irgendetwas in der realen Welt, nicht einmal in der Art von Zusammenhang, der in einer direkten Lüge enthalten ist. Statistiken waren in ihrer Originalfassung genauso ein Fantasieprodukt wie in ihrer korrigierten Version. Meistens wurde von einem erwartet, dass man sie sich einfach ausdachte. So hatte beispielsweise das Ministerium für Fülle in seiner Prognose die Stiefelproduktion für das Quartal auf 145 Millionen Paar geschätzt. Die tatsächliche Produktion wurde mit 62 Millionen angegeben. Beim Umschreiben der Prognose hatte Winston die Zahl jedoch auf 57 Millionen herabgesetzt, um der üblichen Behauptung Rechnung zu tragen, die Quote sei übererfüllt worden. In jedem Fall aber kamen 62 Millionen der Wahrheit nicht näher als 57 Millionen oder als 145 Millionen. Sehr wahrscheinlich waren überhaupt keine Stiefel produziert worden. Noch wahrscheinlicher war, dass niemand wusste, wie viele produziert worden waren, geschweige denn, dass sich überhaupt jemand darum scherte. Man wusste nur, dass in jedem Quartal astronomische Mengen von Stiefeln auf dem Papier produziert wurden, obwohl schätzungsweise die Hälfte der Bevölkerung Ozeaniens barfuß lief. Und so verhielt es sich mit allen aufgezeichneten Tatsachen, ob sie nun bedeutend oder unbedeutend waren. Alles verblasste in einer Schattenwelt, in der letztendlich sogar die Jahreszahl ungewiss geworden war.

      Winston warf einen Blick durch die Halle. In der gegenüberliegenden Arbeitskabine arbeitete ein kleiner, pedantisch aussehender, dunkelhäutiger Mann namens Tillotson fleißig vor sich hin, eine gefaltete Zeitung auf den Knien, den Mund ganz dicht an der Muschel des Sprechschreibers. Er wirkte so, als versuche er das, was er sagte, zwischen ihm und dem Teleschirm geheim zu halten. Er blickte auf, und seine Brille schoss einen feindseligen Blitz in Winstons Richtung.

      Winston kannte Tillotson kaum und hatte keine Ahnung, mit welcher Arbeit er beschäftigt war. Die Mitarbeiter der Dokumentationsabteilung sprachen nicht gerne über ihre Arbeit. In der langen, fensterlosen Halle mit ihrer Doppelreihe von Arbeitskabinen, aus denen das endlose Rascheln von Papier und das Gemurmel der Stimmen, die in die Sprechschreiber diktierten, zu hören waren, gab es ein gutes Dutzend Leute, die Winston noch nicht einmal dem Namen nach kannte, obwohl er sie täglich durch die Gänge eilen oder während des Zwei-Minuten-Hasses gestikulieren sah. Er wusste, dass sich in der Kabine neben ihm die kleine Frau mit den rotblonden Haaren Tag für Tag abrackerte, um aus der Presse die Namen von Personen herauszusuchen und zu löschen, die vaporisiert worden waren und die daher so behandelt wurden, als hätten sie niemals existiert. Das war auf irgendeine Art sogar ganz passend, da ihr eigener Mann einige Jahre zuvor vaporisiert worden war. Ein paar Kabinen weiter war ein sanfter, ineffektiver, verträumter Mensch namens Ampleforth, mit sehr behaarten Ohren und einem erstaunlichen Talent, mit Reimen und Versmaßen zu jonglieren, damit beschäftigt, verstümmelte Versionen – endgültige Texte, wie sie genannt wurden – von Gedichten herzustellen, die ideologisch anstößig geworden waren, die aber aus dem einen oder anderen Grund in den Anthologien beibehalten werden sollten. Und diese Halle mit ihren rund fünfzig Mitarbeitern war nur eine Unterabteilung, sozusagen eine einzige Zelle in dem enormen Komplex der Dokumentationsabteilung. Neben, über und unter ihnen waren weitere Scharen von Arbeitern mit einer unvorstellbaren Vielzahl von Aufgaben beschäftigt. Da waren die riesigen Druckereien mit ihren Redakteuren, Typografie-Experten und aufwendig ausgestatteten Studios für die Fälschung von Fotografien. Es gab die Teleprogramm-Abteilung mit ihren Technikern, Produzenten und ihrem Stab von Schauspielern, die speziell im Hinblick auf ihr Talent, Stimmen nachzuahmen, ausgewählt wurden. Es gab Heerscharen von Bibliothekaren, deren Aufgabe lediglich darin bestand, Listen von Büchern und Zeitschriften zu erstellen, die eingezogen werden sollten. Dann gab es die riesigen Lagerräume, in denen die korrigierten Dokumente aufbewahrt wurden, und die versteckten Verbrennungsöfen, in denen die Originalausgaben vernichtet wurden. Und irgendwo, ganz anonym, saßen die verantwortlichen Köpfe, die das Ganze koordinierten und die politischen Richtlinien festlegten, nach denen dieses Fragment der Vergangenheit zu bewahren, jenes zu fälschen und ein anderes zu vernichten war.

      Und dabei war die Dokumentationsabteilung selbst nur ein kleiner Zweig des Ministeriums für Wahrheit, dessen Hauptaufgabe nicht darin bestand, die Vergangenheit zu rekonstruieren, sondern darin, die Bürger Ozeaniens mit Zeitungen, Filmen, Lehrbüchern, Teleschirm-Programmen, Theaterstücken, Romanen – mit jeder erdenklichen Art von Informationen, Belehrungen oder Unterhaltung zu versorgen, sei es ein Denkmal oder eine Parole, ein lyrisches Gedicht oder eine biologische Abhandlung, eine Rechtschreibfibel für Kinder oder ein Neusprech-Wörterbuch.