Hohenzollern und Jagiellonen
Die späteren Hohenzollem (1701–1918)
Die Grafen von Savoyen
I Buonaparti – die Bonapartes
Bourbon – Borbón – Borbone (die Bourbonen)
Hannoveraner und Wettiner
Der englische Zweig des Hauses Sachsen-Coburg-Gotha
Das Haus Petrović und das Haus Karadjordjević
Einleitung
Mein ganzes Leben lang hat mich die Kluft zwischen Anschein und Wirklichkeit fasziniert. Die Dinge sind nie so, wie sie auf den ersten Blick aussehen. Ich kam als Untertan des British Empire zur Welt und las als Kind in meiner Children’s Encyclopaedia, dass »unser Reich« eines sei, »in dem die Sonne nie untergeht«. Auf der Landkarte sah ich mehr Rot als jede andere Farbe und war begeistert. Doch bald musste ich ratlos miterleben, wie »unsere« imperiale Sonne lodernd in einem Meer von Blut und Chaos am Nachkriegshimmel versank. Die Wirklichkeit, wie sie sich später zeigte, strafte den äußeren Anschein unbegrenzter Macht und Dauer Lügen.
In meiner Enzyklopädie las ich auch, dass der Mount Everest mit seinen 8840 Metern der höchste Gipfel der Welt und nach dem Leiter der Landvermessung in Britisch-Indien, Oberst Sir George Everest, benannt sei. Natürlich ging ich, wie es wohl auch vorgesehen war, von der unausgesprochenen Annahme aus, dass der höchste Punkt auf Erden britisch sei – und war pflichtschuldigst beeindruckt. Das alles klang doch sehr einleuchtend. Als ich Weihnachten 1953 mein Exemplar der Krönungsausgabe von Sir John Hunts Mount EverestA geschenkt bekam, hatte sich Indien aus dem Empire verabschiedet. Und inzwischen habe ich gelernt, dass der Mount Everest nie zu Indien oder zum Empire gehörte. Da der König von Nepal Everests Männern die Erlaubnis verweigert hatte, sein Land zu betreten, war der Berg aus sehr großer Entfernung vermessen worden; die 8840 Meter waren infolgedessen ziemlich ungenau, der englische Name des Berges geht auf einen Akt der Selbstherrlichkeit zurück, und seine authentischsten Namen lauten Sagarmatha (auf Nepali) und Chomolangma (auf Tibetisch).1 Wissen, so musste ich mir eingestehen, ist nicht weniger fließend als die Umstände, unter denen man es erlangt.
Als Junge hat man mich bei verschiedenen Gelegenheiten nach Wales mitgenommen. Da ich mit einem sehr walisischen Namen gesegnet bin, fühlte ich mich sofort zu Hause und gewann eine bleibende Verbundenheit zu diesem Land. Bei einem Besuch bei Freunden in einem Bergdorf nahe Bethesda, ebenfalls einer Familie Davies, lernte ich Menschen kennen, die normalerweise kein Englisch sprachen, und bekam mein erstes englisch-wahsisches Wörterbuch geschenkt, T. Gwynn Jones’ Geiriadur.2 Es machte mich zu einem lebenslangen Sammler fremder Sprachen, wenn auch leider nicht zu einem Meister des Walisischen. Beim Anblick der englischen Burgen in Conwy, Harlech und Beaumaris (die gewöhnlich und fälschlich »Welsh castles« genannt werden), sympathisierte ich eher mit den Eroberten als mit den Eroberern, und als ich irgendwo las, dass der walisische Name für »England«, Lloegr, »das verlorene Land« bedeutete, ließ ich mich von der Vorstellung verzaubern und stellte mir vor, welches gewaltige Verlustgefühl dieser Name ausdrückte. Ein gelehrter Kollege hat mir inzwischen erklärt, dass meiner Fantasie die Pferde durchgingen und die Etymologie diese Vorstellung nicht hergibt. Doch als jemand, der in einer englischen Umgebung aufgewachsen ist, bin ich immer wieder verblüfft darüber, dass alles, was wir heute »England« nennen, einst überhaupt nicht englisch war. Diese Verwunderung spielt eine große Rolle bei vielem, was ich in Verschwundene Reiche geschrieben habe. Schließlich trägt sogar die Stadt Dover ebenso wie der Fluss Avon einen durch und durch walisischen Namen.
Als Teenager, der in der letzten Reihe des Schulchors versuchte, den Ton zu treffen, fühlte ich mich besonders von einem Stück von Charles Villiers Stanford angesprochen. Aus irgendeinem Grund berührten mich die stoischen Worte und die schmelzende Melodie von »They told me Heraclitus«. Zu Hause schlug ich den Namen Heraklit in Blakeneys Smaller Classical Dictionary nach und las über den »weinenden griechischen Philosophen« aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., Heraklit hatte gesagt, dass »alles fließt« und dass »man nie zweimal in denselben Fluss steigen« kann. Er war der Pionier der Idee der Vergänglichkeit, und er tauchte früh in der Zitatesammlung auf, die ich als Schuljunge in einem Notizbuch führte:
They told me, Heraclitus, they told me you were dead.
They brought me bitter news to hear and bitter tears to shed.
I wept as I remembered how often you and I
Had tired the sun with talking and sent him down the sky.
And now that thou art lying, my dear old Carian guest,
A handful of grey ashes, long, long ago at rest,
Still are thy pleasant voices, thy nightingales, awake,
For Death, he taketh all away, but them he cannot take.3
Jemand hat mir, Herakleitos, von deinem Tod berichtet und mich zum Weinen gebracht.
Ich erinnerte mich, wie oft wir beide die Sonne im Gespräch untergingen ließen. Du,
mein Freund aus Halikarnassos, bist längst schon irgendwo Asche, deine Nachtigallen
aber leben, auf die der alles hinwegraffende Hades seine Hand nicht legen wird.B
Heraklit und seine Nachtigallen findet man in meiner Arbeit wieder.
Als Schulabgänger folgte ich dem Rat meines Geschichtslehrers und verbrachte die Sommerferien mit der Lektüre von Edward Gibbons Verfall und Untergang des Römischen Imperiums sowie seiner Autobiografie. Gibbons Thema war, in seinen eigenen Worten ausgedrückt, »das vielleicht größte und schrecklichste Schauspiel in der Geschichte der Menschheit«.4 Ich habe nie etwas Großartigeres gelesen. Gibbons wunderbare Darstellung zeigt, dass die Lebensspanne auch der mächtigsten Staaten endlich ist.
Jahre später stürzte ich mich als Historiker in die Geschichte Mittel- und Osteuropas. Meine erste Aufgabe als Dozent an der University of London bestand darin, einen Kurs mit neunzig Einheiten zur polnischen Geschichte vorzubereiten. In dem Kurs sollte es vor allem um die Union oder Rzeczpospolita von Polen–Litauen gehen, die bei ihrer Entstehung im Jahr 1569 der größte Staat Europas war (oder zumindest über die größten bewohnten Landstriche unseres Kontinents herrschte). Dennoch wurde der polnisch-litauische Staat in wenig mehr als zwei Jahrzehnten am Ende des 18. Jahrhundert so vollständig vernichtet, dass kaum jemand heute auch nur von ihm gehört hat. Und er war nicht das einzige Opfer. Die Republik Venedig ging in dieser Zeit ebenso unter wie das Heilige Römische Reich.
Während meiner akademischen Laufbahn war die Sowjetunion die längste Zeit das wichtigste Forschungsobjekt meines Faches und eine der beiden Supermächte weltweit. Sie besaß das größte Territorium der Welt, ein gewaltiges Arsenal nuklearer und konventioneller Waffen und ein noch nie dagewesenes Aufgebot der unterschiedlichsten Sicherheitsdienste. Keine ihrer Waffen, kein Polizist hat sie retten können. An einem schönen Tag des Jahres 1991 verschwand sie von der Landkarte und wurde nicht mehr gesehen.
Deshalb war es wohl kein Wunder, dass ich mich, als ich anfing, die Geschichte der Britischen Inseln zu schreiben,5 fragte, ob die Tage des Staates, in dem ich geboren wurde und in dem ich lebe, des Vereinigten Königreichs Großbritannien, vielleicht auch gezählt sein könnten. Und nach längerem Nachdenken kam ich zu dem Schluss, dass es tatsächlich so war. Meine strenge, nonkonformistische Erziehung hatte mich gelehrt, den Insignien der Macht gegenüber misstrauisch zu sein. Die wunderbaren, gemessenen Kadenzen des bekannten Kirchenliedes klingen noch in mir nach:
So be it, Lord; Thy throne shall never,
Like earth’s proud empires, pass away;
Thy kingdom stands, and grows for ever,