Bis es zum Zerwürfnis mit dem Gründer und den neuen Investoren kommt. Alex verliert erst seinen Einfluss, dann seine Position, dann einen Teil seiner Anteile am Unternehmen. Aber bereits während seiner Zeit im Unternehmen schafft er sich Freiräume. Gemeinsam mit einem exzentrischen Lord (allein darüber könnte man ein Buch schreiben) unternimmt er ausgedehnte Motorradtouren, die ihn unter anderem nach Turkmenistan, Usbekistan und Georgien führen. In Portugal besuchen die beiden alte Weinkeller, in Bahrein sind sie zu Privat-Audienz und Tee beim König eingeladen. Alex entdeckt neue Seiten an sich, den Abenteurer und Entdecker.
Zurück in England und wieder im Unternehmen, findet Alex sich nicht mehr zurecht. Er fühlt sich emotional ausgebrannt und einem Burnout nahe. Deshalb stellt er sein Leben komplett um, nimmt sich eine größere Auszeit. »Ich bekam große Selbstzweifel – schließlich wurde ich gerade 40, war ohne Job, aber auch ohne finanziellen Druck. Ich fühlte mich wie ein Tier im Zoo, gut gefüttert und gepflegt, aber auch gefangen. Um ehrlich zu sein: Ohne Sinn und Aufgabe war es noch schlimmer, als vor lauter Überarbeitung nicht zu wissen, wie ich alles bewältigen soll.«
Alex beschließt, seinem Leben erneut eine ganz andere Richtung zu geben: Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Elizabeth bewirbt er sich erfolgreich als Auswanderer in Neuseeland. Ein erster unternehmerischer Versuch in der Tourismusbranche scheitert. Der zweite Anlauf ist erfolgreicher und passt auch besser zu den beiden: Mit ihrem Unternehmen »Horse Trek'n« organisieren sie geführte Touren auf dem Rücken von Pferden.2 »Wir haben jetzt fast 20 Pferde und sind sehr glücklich mit unserer Entscheidung. Wir leben auf der Nord-Insel, eine sehr schöne und auch bei Touristen beliebte Gegend«, sagt Alex. »Unsere Kunden kommen oft nur für ein paar Stunden. Dann reiten wir in den Wald oder gehen mit Pferd und Reiter im Meer schwimmen. Unser Umsatz hat sich in 12 Monaten schon verdreifacht, und es macht mir einfach Freude, wieder sehr viel selbst zu machen, jeden Kunden persönlich zu treffen und dabei noch mein Hobby Fotografie zu pflegen.«
Alex' Einkommen liegt heute bei etwa zwei Drittel seiner früheren Einkünfte. Er schätzt aber seine persönliche Job-Zufriedenheit auf das Fünffache, verglichen mit den letzten Jahren bei seinem Goldhändler.
Gegen Ende unseres Gesprächs frage ich Alex, was er denn als Erfolgsfaktoren für sich selbst sieht, und was er anderen mit auf den Weg geben könne. »Beweg Dich lieber früher als später«, sagt er nach kurzem Nachdenken. »Je länger Du bleibst, umso mehr zieht Dich die Situation im Unternehmen runter. Viel besser ist es, zu einer noch guten Zeit zu gehen. Dann bist Du Herr der Situation, und kannst die Konditionen und Art Deiner Weiterentwicklung bestimmen.«
Mein nächster Protagonist, Kari Hokaniemi, sitzt exakt auf der anderen Seite des Globus. Auch er hat als Banker lange in einem Umfeld gearbeitet, das eher toxisch als motivierend war.
»Die Welt hat mehr zu bieten als am Schreibtisch zu sitzen« – Kari Honkaniemi
Es ist früher Morgen in Florida, als sich Kari von dort per Videokonferenz meldet.3 Er erzählt mir seine Geschichte, die eines Jungen in der Natur und in der Weite Finnlands, der sich eher durch Zufall in der New Yorker Finanzwelt wiederfindet. Aber der Reihe nach!
Kari kommt aus Unternehmerfamilien. Sein Großvater väterlicherseits betrieb bis in die 60er Jahre eine Schreinerei. Seinem Großvater mütterlicherseits gehörte eine Ziegelfabrik, die allerdings verkauft wurde als Kari 17 Jahre alt war. Er fängt in einer Bank an zu arbeiten und spezialisiert sich auf Foreign Exchange, wo er alle Stationen wie Marketing, Vertrieb, Budgetplanung etc. durchläuft. Es gefällt ihm. »Das war ein anderer Schlag Leute damals in Finnland. Es gab mehr persönliche Kontakte und die Mitarbeiter waren stolz auf ihre Arbeit. Ich hatte dieses gleiche Gefühl erst wieder, als ich vor 7 Jahren mein eigenes Business startete.«
Nach Stationen bei einer amerikanischen Großbank in den Niederlassungen in Helsinki und Zürich, wo er mit Unterstützung seiner Mutter auch seine zwei Kinder alleine aufzog, ging es ins Headquarter nach New York. Da dort immer mehr Aufgaben automatisiert wurden, wurde aus der früheren hektischen Betriebsamkeit der Trading Rooms eine deutlich stillere Atmosphäre. »Um ehrlich zu sein, ich war zu Tode gelangweilt«, sagt Kari. Er wechselt, geht für zwei Jahre zu einem Wettbewerber, und kündigt dort, um seiner Frau Mona, die ebenfalls im Finance-Bereich arbeitet, nach Singapur zu folgen. Der Umzug nach Singapur zerschlägt sich jedoch, und Kari geht auf Jobsuche. Zwei Wochen vor dem großen Bankencrash hat er noch ein letztes Interview mit Lehman Brothers. Danach ist nichts mehr, wie es war, und Kari wird nie mehr einen Trading Room betreten. Er unterstützt ehemalige Kollegen bei der Jobsuche und entdeckt, dass es noch ein Leben außerhalb der Finanzindustrie gibt.
Durch eine Reihe von Zufällen lernt er Tom Kraykraft kennen, seinen späteren Geschäftspartner und mittlerweile besten Freund. »Tom und ich ergänzen uns perfekt. Nicht nur, dass ich aus Europa und er aus den USA kommt. Auch wenn wir als Typen aus verschiedenen Ecken kommen und unser Business Background unterschiedlich ist: Wir haben die gleichen Werte und Grundeinstellungen.«
Werte sind Kari sehr wichtig. Seine Firma BOS (das steht für »Built on Site«)4 diversifiziert gerade in zwei neue Produktlinien: LED-Lampen und Staubabschirmungen, beides für Baustellen und Renovierungsprojekte. Die LED-Lampen verbrauchen deutlich weniger Strom als herkömmliche Lampen und die Staubabdeckungen sind wiederverwendbare Paneele. »Damit schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe«, sagt Kari. »Wir stoppen die Verschwendung von Plastik und vermindern die Umweltbelastung, aber wir sparen auch 90% der Kosten ein, wenn wir die Lebensdauer des Produktes berücksichtigen.«
Karis Einkommen ist heute etwa die Hälfte des Gehalts seines früheren Jobs bei den Banken. Er bereut seine Selbstständigkeit keine Minute. »Meine Zufriedenheit mit der neuen Aufgabe ist gar nicht in Zahlen zu fassen. Ich mache eine sinnvolle Arbeit, die mich zufriedenstellt. Ich nenne das ›labour of love‹ und meine Frau Mona sagt, dass ich wieder der frühere, energiegeladene Kari bin, den sie vor vielen Jahren kennengelernt hat.«
Die Unterstützung durch seine Frau Mona ist ein entscheidender Erfolgsfaktor, den Kari nennt. Er hat sich seinen eigenen, persönlichen Verwaltungsrat geschaffen, dem neben Mona und seinem Geschäftspartner Tom auch sein Bruder angehört. Von diesen holt er sich regelmäßig Rat und Feedback.
Weitere wichtige Elemente des Erfolgs als Selbständiger sieht Kari in Selbstdisziplin und selbstgewählten Routinen. Beides ist vor allem in schwierigen Zeiten von hoher Bedeutung. Das deckt sich mit meiner Beobachtung und der vieler anderer. Der Ausstieg aus den Zwängen und Routinen der Tretmühle großer Organisationen hinterlässt erst einmal ein Vakuum, das gefüllt werden will. Struktur ist hier enorm wichtig.
»The world has much more to offer than sitting on a desk«, sagt Kari zum Schluss. Er hat den Trading Desk der Großbank gegen eine Aufgabe mit Selbstverantwortung und höherer Zufriedenheit eingetauscht. Und er war bereit dafür, einen Preis zu zahlen: weniger Einkommen und mehr Unsicherheit. Ein guter Deal, wie der ehemalige Banker findet.
Anmerkungen
1 1 Interviews September 2019
3 3 Video Interviews am 12. und am 25. April 2019