Schneesturz - Der Fall des Königenhofs. Julia Heinecke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Heinecke
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Исторические детективы
Год издания: 0
isbn: 9783839267905
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wird immer schlimmer. Gestern hat der Alte mir wieder unter den Rock gefasst«, vertraute Gertrudis Wendelin an, während sie ihre Bluse zuknöpfte. »Ich hasse es.«

      »Dieser Glotzbock«, grollte Wendelin wütend. »Ich wünschte, ich könnte ihm …«

      »Lass«, Gertrudis legte ihren Zeigefinger auf seinen Mund. »Ich darf einfach nicht irgendwo allein sein. Kaum ist das so, taucht er auf. Du musst darauf achten, dass du dich nicht so weit von ihm entfernst, dann kannst du mich vielleicht schützen. Manchmal glaube ich, die Bäuerin lässt mich mit Absicht Arbeit machen, bei der ich alleine bin, damit der Alte kommen kann. Die ist doch froh, wenn sie ihre Ruhe hat im Ehebett.«

      »Er soll dich in Ruhe lassen.« Wendelin zog Gertrudis zu sich heran. »Wir verschwinden von hier. Bald. Ich versprech’s dir.«

      »Dir tut er ja nichts.« Missmutig stand Gertrudis auf. »Ich gehe jetzt. Schlaf gut.«

      »Du auch.«

      Ein letzter Kuss und Gertrudis machte sich auf in die Gangkammer, in der sie mit den drei jüngsten Tritsch­ler-Kindern schlief. Dazu musste sie leise die Tür von Wendelins Schlafkammer auf- und zumachen, durch den Hausgang huschen, an der bäuerlichen Schlafkammer vorbei, um die Tür zum Außengang genauso leise zu öffnen und wieder zu schließen. Gertrudis wusste ganz genau, wie weit sie die Türen in welcher Geschwindigkeit öffnen musste, damit sie nicht knarrten. Barfuß lief sie in der Dunkelheit über den Holzboden. Es war erstaunlich, wie behände und lautlos sie in der Schwärze der Nacht ihren Weg fand. Sie trat auf den Außengang und zog sachte die Tür hinter sich zu. Gleich war sie bei ihrer Kammer. Wie kalt es schon Anfang Oktober ist, dachte sie. Ihre Füße fühlten sich wie Eisklötze an, seit sie Wendelins Bett verlassen hatte.

      »Pst«, kam es von hinten.

      Gertrudis zuckte zusammen. In der Dunkelheit kam Martin auf sie zu. Sie sah nur seine Umrisse, aber wusste doch allzu genau, dass es der Bauer war. Sie konnte es riechen. Er hatte auf dem Außengang gestanden und sie offenbar erwartet.

      »Was machst du hier?«, herrschte er sie leise an.

      »Ich, ich …«

      Gertrudis konnte nur stammeln. Der Bauer griff nach ihrem Arm. Gertrudis war im ersten Moment wie erstarrt. Im zweiten überkam sie Wut. Sie riss sich mit aller Macht los.

      »Nein«, zischte sie, »lass mich!«

      Sie drehte sich um und rannte zu ihrer Kammer. Als sie drinnen war, drückte sie die Tür zu und unterdrückte ein Keuchen. Starr stand sie da und betete zu Gott. Wenn Martin wollte, konnte er problemlos die Tür öffnen und die Magd herausziehen. Doch Gertrudis hatte Glück. Die Schritte des Bauern entfernten sich.

      Seinen Unmut über die Abfuhr ließ Martin am nächsten Tag weidlich an der Magd aus. Beim Morgenessen ging es schon los. Kaum war Gertrudis bei der Milchsuppe an der Reihe, legte Martin seinen Löffel nieder. Alle folgten seinem Beispiel, sodass Gertrudis auch nichts anderes übrigblieb. Du nicht, schienen seine Augen zu sagen, als Martin sie finster ansah. Schließlich nahm er seinen Löffel wieder auf und schöpfte aus der Schüssel. Dann war Wendelin dran, danach die Buben, schließlich Walburga, alle Töchter und die Fallermarie. Als Gertrudis erneut zu löffeln versuchte, wiederholte der Bauer das Spiel. Keinen Bissen bekam Gertrudis ab, aber neben den bösen Blicken des Bauern reichlich spöttische von der Bäuerin. Gertrudis wurde rot vor Scham, aber sie hielt sich aufrecht und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Wendelin schaute mitleidig zu ihr herüber, aber er konnte nichts machen, und Gertrudis wich seinem Blick aus. Als sie abgeräumt hatte und Wasser vom Brunnen in die Küche trug, erschien die Fallermarie und steckte ihr ein Stück Brot zu.

      »Gräm dich nicht«, sagte sie freundlich und verschwand wieder. Gertrudis biss dankbar in die Rinde und machte sich an den Abwasch.

      Beim Mittagessen ließ Martin die Magd wie gewohnt löffeln, aber zum Abendessen gab es wieder nichts für sie. Hungrig stand Gertrudis danach in der Küche und spülte Schüsseln und Topf. Diesmal kam niemand mit Essen herein, aber der Anschnitt vom Brot lag noch da. Das Brot war schon alt, das Endstück steinhart und eigentlich nicht essbar, aber in ihrem Hunger griff Gertrudis zu und stopfte es sich in den Mund, um es aufzuweichen.

      Walburga kam in die Küche und sah die Hamster­backen der Magd.

      »Stiehlst du jetzt etwa Brot?«, fuhr sie sie an. »Raus damit. In meinem Haus wird nicht gestohlen.«

      Gertrudis öffnete ihre Hand und spuckte das harte Stück hinein. Walburga griff tatsächlich danach und warf es auf den Boden. Dann trampelte sie darauf herum und blickte Gertrudis wütend an.

      »Wenn ich dich noch mal erwische, du Luder«, sagte sie böse, »dann jag ich dich vom Hof.«

      Walburga wandte sich ab. An der Tür drehte sie sich noch einmal um.

      »Jetzt kannst du’s essen, ich hab nichts dagegen.«

      Gertrudis hob das Brot vom Boden auf und warf es in den Schweineeimer. Sie hasste die Bäuerin.

      »Soll dich der Teufel holen«, fluchte sie und spuckte Richtung Küchentür, »dich und deine ganze Familie.« Sie wünschte der Alten alles Unglück.

      Der Königenhof konnte mit der diesjährigen Ernte zufrieden sein. Genug Hafer und Roggen hatten die Bewohner eingebracht, der Kartoffelkeller war gut gefüllt, auch Lein hatten sie ausreichend anbauen können, der jetzt in der kommenden dunklen Jahreszeit von den Frauen zu Garn und Tuch weiterverarbeitet wurde. Zur Kirchweih, der Kilbi, ging die Hofgemeinschaft fast geschlossen nach Neukirch in den Gottesdienst und feierte anschließend auf dem Platz vor dem Gasthaus Rössle bei Musik und Jahrmarkttreiben.

      Am Abend ging es mit einem großen Essen im Hause Tritschler weiter, für das eigentlich Walburga verantwortlich war. Doch heute konnte sie sich nicht darum kümmern, und deswegen standen die Fallermarie, Elisabeth und Bibiane in der Küche, während Walburga in der Stube Jakobea in den Armen hielt. Ihr jüngstes Kind, das sich eigentlich gut entwickelt hatte, kränkelte seit Tagen erneut. Wieder und wieder legte Walburga Jakobea an die Brust, aber die Kleine wollte nicht trinken. Stattdessen weinte sie ohne Unterlass.

      Walburga betrachtete das immer noch zierliche, jammernde Kind und war verzweifelt. Wenn Jakobea nicht langsam etwas zu sich nahm, würde sie zu schwach zum Überleben, da machte Walburga sich nichts vor. Über dieser Sorge vernachlässigte sie seit Tagen ihre Pflichten und wurde von Martin getadelt. Aber was sollte sie tun? Es ging doch um ein Menschenleben.

      Bibiane kam mit einem Stoß Teller in die Stube und stellte sie auf dem Tisch ab. Dann setzte sie sich neben ihre Mutter auf die warme Ofenbank und betrachtete ihre kleine Schwester.

      »Sie sieht so fahl aus«, sagte sie, »jeden Tag mehr.«

      Walburga schaute ihre zweitälteste Tochter streng an. Sie sollte so etwas nicht sagen, aber die Sechzehnjährige hatte recht.

      »Soll ich sie mal halten?«, bot Bibiane an.

      Walburga legte das kleine Bündel in die Arme seiner Schwester und spürte Erleichterung. Bibiane wiegte Jakobea hin und her und summte ein Lied für sie. Ganz weich und zärtlich sah sie dabei aus, wie Walburga es bei der energischen Bibiane noch nie wahrgenommen hatte. Walburga war gerührt von diesem Anblick. Gleichzeitig war sie sich plötzlich sicher, dass das kleine Mädchen nicht zu retten sein würde.

      Jakobea starb in der Nacht nach Allerseelen. Als Walburga am Morgen aufwachte, lag der Säugling tot neben ihr im Bett. Die Bäuerin war untröstlich. Auch Martin war traurig. Die kleinen Geschwister weinten hemmungslos.

      In der Stube stellte Martin in der vorderen Ecke zwei Stühle zueinander und legte ein Brett dazwischen. So bahrten sie den Säugling auf, holten das Totenkreuz hervor und versammelten sich geschlossen um das kleine Totenbett. Pfarrer Schilling kam. Walburga sah verhärmt aus, grau, faltig. Sie fühlte sich abwesend, als säße sie woanders und hörte die Stimmen aus weiter Ferne. Ausgerechnet das dreizehnte Kind von ihnen war verstorben. Walburga hatte das Gefühl, als würde ihr eine besondere Prüfung auferlegt. Was hatte Gott mit ihnen vor? Das dreizehnte Kind.

      »Und ob ich schon wanderte