Aber noch war es nicht so weit, noch saßen wir in der gepflegten »Schweizerhof«-Bar und warteten auf Svenja, als würde der erste Akt unserer Begegnung erst mit ihrem Erscheinen beginnen. Währenddessen sagte ich zu Katja im Plauderton – der mir noch nie leichtgefallen war –, Svenja habe mir erzählt, dass ihr Vater ein hochrangiger DDR-Offizier gewesen sei. Was es damit denn genau auf sich habe? Und wie sie, Katja, als »privilegierte Tochter von« die DDR erlebt habe? Wie hätte ich zu jenem Zeitpunkt auch ahnen können, dass wir uns vor den Geschichten anderer Leute in Acht nehmen müssen, wenn wir uns nicht selbst darin verfangen wollen!
Ich weiß nicht mehr, wie viele Stunden Katja und ich an jenem Tag beieinander saßen. Jedenfalls nahmen wir zwischen unseren Gesprächen drei Mahlzeiten ein, ohne uns vom Tisch zu erheben: Sushi am Mittag, Erdbeertörtchen zum Tee und Pasta am Abend. Svenja hatte sich inzwischen telefonisch abgemeldet, was Katja und ich nur noch am Rande zur Kenntnis nahmen, so sehr waren wir in unser Gespräch vertieft. Ja, auch Katja hatte sich von meinem Interesse an ihrer Kindheit und Jugend anstecken lassen und gab bereitwillig Auskunft. Man sah ihr an, wie sie förmlich in ihren Erinnerungen kramte. Ich sagte ihr, dass ich kürzlich einen Dokumentarfilm über Erich Honeckers Enkel Roberto Yañez gesehen hatte.
Ob sie den kenne? Katja lachte laut auf. »Klar kenne ich Roberto!«, rief sie freimütig. »In den 1980er-Jahren habe ich mal mit ihm und Carsten Krenz – dem Sohn von Egon Krenz, du weißt schon, dem zweiten Mann hinter Honecker – im Personalraum eines Hotels in Dierhagen an der Ostsee ›Dirty Dancing‹ gesehen. Das war verbotener Stoff aus dem Westen, Carsten hatte den Film für uns beschafft.« Sie meinte, dass sich die Eliten in der DDR in denselben überschaubaren Kreisen bewegt hätten, wie überall auf der Welt. Nur, dass es in einer egalitären Gesellschaft eigentlich keine Eliten geben dürfte – theoretisch zumindest. Zwar schien Katja H. als Tochter eines Vizeadmirals der Volksmarine weniger abgeschottet aufgewachsen zu sein als Roberto Yañez, der Enkel des Staatsratsvorsitzenden. Aber natürlich hatte auch Katja zahlreiche Privilegien genossen, die allerdings mitunter ihren Tribut gefordert hatten.
So erzählte sie mir, dass sie sich im Alter von sechzehn Jahren während ihrer Gastronomielehre in Leipzig Hals über Kopf in einen jungen Profiboxer verliebt habe. »War das ein hübscher Junge mit schwarzem Haar und schneeweißen Zähnen!« Bedauerlicherweise jedoch hatte der junge Mann eine französische Mutter und somit einen westlichen Hintergrund. Da Katja während ihrer Lehre fern von Rostock in einem Internat wohnte und keine Herrenbesuche empfangen durfte, sah sich die Sechzehnjährige gezwungen, den Jungen heimlich in seiner Wohnung zu treffen. Eines Nachts wurde Katja auf ihrem Heimweg von einem Mann – »offensichtlich einem von der Stasi«, wie sie sagte – vor dem Internat abgefangen. »Sie wissen aber schon, dass Ihr Freund Beziehungen ins westliche Ausland hat?«, stellte der Mann Katja inquisitorisch zur Rede. Und ohne eine Antwort abzuwarten, fügte er hinzu: »Beenden Sie diese Beziehung. Sofort!« Katja wandte sich von dem Mann ab, rannte in ihr Zimmer und weinte sich dort die Augen aus.
»Vati hat nie ein Wort darüber verloren. Dabei hat er bestimmt davon gewusst«, sagte Katja jetzt mehr zu sich selbst als zu mir, während sie in der behaglichen »Schweizerhof«-Bar nachdenklich in ihrem Tee rührte. »Mein Vater hat immer zu mir gesagt: Nie einer aus dem Westen, sonst machst du mir alles kaputt, was ich mir hier aufgebaut habe!« Vergessen habe sie den Jungen allerdings nie, fügte Kaja hinzu, und erst viel später habe sie ihn zufällig mal wiedergetroffen. »Niemals aber hätte ich mich widersetzt«, sagte Katja und sah mir direkt in die Augen, »weder dem Befehl des Stasi-Mannes noch dem Wunsch meines Vaters. Ich hatte schon verstanden, warum ich nichts mit einem aus dem Westen anfangen durfte!«
Später an jenem Abend, als ich nach unserem ersten Treffen im Hotel »Schweizerhof« im Zürcher Hauptbahnhof auf den Zug nach Kloten wartete, begann ich das, was mir Katja eben in der Bar erzählt hatte, in Stichworten auf den weißen Rand einer Gratiszeitung aufzuschreiben. Warum tat ich das? Obwohl ich dem Leben anderer Leute schon immer mehr abgewinnen konnte als meinem eigenen, wäre ich nie auf die Idee gekommen, Gehörtes oder Erlebtes zu Papier zu bringen. Als Reisebüroangestellte schrieb ich höchstens ab und an kurze Texte über Feriendestinationen und Hotelanlagen oder verfasste Kundenmailings, was mich nicht einmal sonderlich zu begeistern vermochte. Was war es also, was mich an Katjas Geschichte derart fesselte, dass ich mir die wichtigsten Ereignisse und Eckdaten jetzt notierte? Wohl der Umstand, dass sie als Tochter eines hochrangigen Armeeangehörigen das politische System der DDR anders erlebt haben dürfte, als all die Frauen und Männer, die sich gegen Überwachung und Unterdrückung aufgelehnt hatten. Und die ihren Widerstand oder ihre Fluchtversuche mit Verfolgung, Folter, Haft oder gar ihrem eigenen Leben bezahlen mussten. Da ich in der Zeit der Wende in der Schweizer Hotellerie tätig gewesen war, wo zahlreiche junge Deutsche aus dem Osten – darunter auch Svenja – nach dem Fall der Mauer ihr Glück versucht hatten, wusste ich freilich, dass sich viele von ihnen dem System so gut wie möglich angepasst hatten. Aus dem einfachen Grund, weil sie, mit den Worten von Svenja gesprochen, »ja keine Scherereien mit der Stasi kriegen wollten«. »Wir sind da einfach hineingeboren worden«, hatte Svenja einst achselzuckend auf meine Frage entgegnet, wie sie es nur ausgehalten habe, so lange in Unfreiheit zu leben. Und mit traurigem Lächeln hatte Svenja hinzugefügt: »Meine Großmutter sagte immer, dass, wer die Nazis überlebt hat, auch die Stasi überleben würde. Zwei Tage nach dem Mauerfall war sie tot.«
Am Tag nach unserer ersten Begegnung rief mich Katja überraschend an.
»Hör mal, Brigitte«, rief sie ins Telefon, »ich bin gerade im Auto unterwegs und habe gedacht, dass dich die Familienchronik meines Vaters vielleicht interessieren könnte!«
»Familienchronik?«, wiederholte ich. »Dein Vater hat alles aufgeschrieben?«
»Aber ja«, erwiderte Kaja, »sogar in zwei Teilen. Den ersten Teil, der bei seiner Geburt 1931 beginnt, habe ich allerdings nicht bei mir. Komm doch mal auf einen Kaffee bei mir vorbei, dann kannst du gern in der zweiten, neueren Chronik blättern. Die setzt unmittelbar nach dem Mauerfall 1989 ein!«
Ich schwieg. Natürlich hatte ich Lust, Katja wiederzusehen. Ihre Lebensfreude hatte etwas Ansteckendes, und sie war eine begnadete Erzählerin. Andererseits gingen mich ihre Familiengeschichten nichts an, und wie fast alle Menschen hasste ich es, mir Fotoalben oder Tagebücher anderer Leute anzusehen – insofern es sich dabei nicht um jene von namhaften Schriftstellern oder Trouvaillen von besonderer Brisanz handelte.
»Jedenfalls hast du mich gestern inspiriert, selbst mal wieder in alten Unterlagen zu stöbern«, unterbrach Katja die Stille. »Unter anderem habe ich die Zeittafel studiert, die mein Vater ergänzend zur Familienchronik verfasst hat, so quasi als Zusammenfassung derselben. Sie umfasst einen Zeitraum von siebzig Jahren. Ist das nicht verrückt?«
»Allerdings«, entgegnete ich lapidar.
»Na ja«, fuhr Katja fort, »und da habe ich entdeckt, dass ich gestern beim Erzählen einige Orte und Daten durcheinandergebracht habe.«
»Ist doch egal«, entgegnete ich, »für mich war’s einfach interessant, etwas über deine Herkunft und dein Leben in der DDR zu erfahren. Aber schick mir die Zeittafel trotzdem, ich schmökere gern in anderer Leute Vergangenheit!« Ich sagte ihr nicht, dass ich mich noch gestern Nacht beim Nachhausekommen an den Computer gesetzt hatte, um das, was sie mir in der Bar erzählt hatte, fast wortgetreu aufzuzeichnen. Etwas in mir drängte mich, es unverzüglich zu tun; nicht aus Angst, im Lauf der Zeit Bedeutendes zu vergessen, sondern um mir beim Schreiben noch einmal die Stationen ihres Lebens zu vergegenwärtigen – so, wie wenn man einen spannenden Film gleich zweimal hintereinander sehen will, um besser auf die Details zu achten, denen man beim ersten Mal nicht genug Beachtung schenken konnte.
Daher nahm ich Katjas Vorschlag, mir die Zeittafel zu schicken, auch dankend an, um die eigentümliche Grundmelodie dieses mir so fremden Leben strukturieren zu können, um eine Art von Übersicht zu gewinnen. Katja mailte mir die Zeittafel, die ihr Vater in zeitaufwändiger Detailarbeit angefertigt haben musste, gleich nach unserem Telefongespräch zu. Das Bedürfnis, ja der innere Drang des Gustav H.,