Stunden später, die Sonne warf ihre ersten Strahlen durch die kleinen Fenster, suchten sie in der schmucklosen Kammer der Mädchen ihre Kleider zusammen.
»Sind sie nicht herzig?«, raunte Georg Stanislaus zu. Mit gemischten Gefühlen betrachtete Stani die beiden, die eng aneinander gekuschelt friedlich schliefen.
Leise schlichen sie die schmale Holztreppe hinunter.
»Ist das recht, was wir getan haben?«, fragte Stanislaus, wohl mehr sich selbst als seinen Freund.
»Ah geh, Stani, zerbrich dir nicht den Kopf. Die machen das gern. Und irgendwann werden sie einen braven Mann heiraten, Kinder kriegen und sich voller Stolz an uns erinnern. Glaub mir, das Leben ist nicht kompliziert, solange jeder weiß, wo er steht.« Georg drehte sich zu ihm um. »Mach nicht den Fehler und verlieb dich in so eine.«
Stanislaus zuckte unschlüssig die Achseln.
Da packte Georg ihn hart an der Schulter. »Hast g’hört! Ich mein’s nur gut mit dem Mädel. Wenn du sie spüren lässt, dass du sie wirklich gernhast, machst sie unglücklich. Hast mich verstanden?«
Stanislaus nickte. Nachdenklich folgte er seinem Freund durch die erwachende Stadt. Obwohl es ein herrlicher Tag zu werden versprach, wollte sich die dazu passende Hochstimmung nicht einstellen.
*
Sie lehnte ihren Kopf zurück. Das Schaukeln der Kutsche beruhigte sie. Sophie liebte den neuen Landauer, den ihr Vater vor Kurzem für die Familie erworben hatte. Den ganzen Sommer über hatte sie mit offenem Verdeck fahren können, was sie die regelmäßigen Besuche bei ihrer Tante Louise noch intensiver hatte genießen lassen. Mama hatte Papa – wie konnte es anders sein – wegen dieser enormen Ausgabe gescholten. Die Kutsche sei nicht nur zu groß für die ohnehin beschränkten Stellplätze des Stadthauses, sondern auch viel zu teuer. Außerdem würden sie, seit er in Diensten des Obersthofmeisters, des Fürsten von Trauttmansdorff, stand, ohnehin nie mehr verreisen. Papa jedoch hatte ihre Argumente lachend vom Tisch gewischt, sie auf die Wange geküsst und ihr versprochen, sie in Kürze zu einer Reise nach Prag zu entführen. Mamas Augen hatten geleuchtet und Papa hatte sein Versprechen tatsächlich wahr gemacht. Seither stand der Landauer zu Sophies alleiniger Verfügung. Da Papa von seinen Geschäften beinahe rund um die Uhr okkupiert wurde, benutzte er die Hofequipagen, Georg fand Kutschenfahrten generell unter seiner Würde – außer an der Seite seiner jeweils aktuellen Herzdame natürlich –, und Mama ging so gut wie nie mehr aus.
Sophie zog den Schal fester um ihre Schultern. Es war erst Oktober, aber trotz des sonnigen Wetters und des geschlossenen Verdecks fröstelte sie. Wieder zog sie den zerknitterten Brief aus ihrem Retikül. Hoffentlich war Tante Louise zu Hause. Es war Dienstag und Sophie kam unangemeldet. Doch sie musste sie sprechen. Und zwar dringend.
»Dorothea, wir sind da«, weckte sie ihre Begleitung lautstark aus deren kurzen, aber geräuschvollen Schlummer. Sophie seufzte. Warum nur bestand Mama hartnäckig darauf, dass sie auf jedem ihrer Wege, und mochte er auch noch so kurz sein, das in die Jahre gekommene Dienstmädchen mitschleppte? Dorothea war beinahe taub, ihre gichtigen Knochen schmerzten, jedes Rumpeln der Kutsche entlockte ihr ein Stöhnen. Doch Mama blieb unerbittlich. Niemals, niemals!, würde sie zulassen, dass ihre Tochter sich ohne Anstandsdame außer Haus begab. Im Haushalt war Dorothea so gut wie gar nicht mehr zu gebrauchen, weshalb Sophie den Verdacht hegte, dass es ihrer Mutter weniger um den makellosen Ruf ihrer Tochter ging als um ihr teures Porzellan und sie deshalb die gute Seele lieber mit Sophie auf den Weg schickte.
Dorothea fuhr hoch. Ihre Haube war verrutscht und bedeckte das halbe Gesicht. Sanft rückte Sophie das Spitzenhäubchen gerade. Seit sie denken konnte, hatte Dorothea in ihrem Haushalt gelebt. Sie mochte sie sehr. Dennoch, manchmal hatte sie das Gefühl, dass eher sie auf ihre Begleiterin aufpasste als umgekehrt.
»Wir sind da!«
»Schon?«
Statt einer Antwort schubste Sophie sie ungeduldig zur Tür, die der Kutscher in diesem Moment öffnete. Als auch Sophie ausgestiegen war, blickte sie sich um. Der Pferdeknecht führte die beiden Braunen, die Tante Louise in der Regel für ihre Ausfahrten vorspannen ließ, gerade zu den Stallungen. Gut. Sophie seufzte erleichtert. Sie war also zu Hause.
»Begleite Dorothea in die Küche, Josef. Es wird nicht allzu lange dauern.«
Der Kutscher nickte und sah Sophie kopfschüttelnd nach, die, ohne eine Antwort abzuwarten, ins Haus stürmte.
»Gott sei Dank, Ihr seid da!« Völlig außer Atem betrat Sophie den Salon ihrer Tante.
»Guten Tag, mein Kind! Was für eine Überraschung.« Louise legte Buch und Lorgnon beiseite und stand auf. »Weshalb bist du denn so aufgelöst?«
Sophie stürzte sich in ihre Arme.
»Aber, aber, beruhige dich. Was ist denn geschehen?«
»Nichts!« Verzweifelt streckte Sophie ihr den Brief hin. »Das ist es eben. Wieder keine neuen Nachrichten. Er ist einfach wie vom Erdboden verschluckt. Ach, Tante, vielleicht haben sie doch alle recht. Er ist tot. Und ich will das einfach nicht wahrhaben.«
»Jetzt setz dich erst einmal hin, damit ich in Ruhe lesen kann.« Energisch schubste Louise ihre Nichte auf das Louis-Seize-Sofa neben dem zierlichen, mit dunkelrotem Damast bezogenen Kanapee, von dem sie sich gerade erhoben hatte. Das Sofa war, wenn auch unbequem, ihr Lieblingsmöbel, ein Geschenk des Fürsten aus der Anfangszeit ihres amourösen Verhältnisses, über und über mit Blütenranken bedeckt, Arm- und Rückenlehnen aufs Aufwändigste verziert und vergoldet. Die Woge des Klassizismus, die mittlerweile die meisten der renommierten Wiener Salons und Empfangsräume überrollt hatte, schien vor Louises Gartenpalais Halt gemacht zu haben. Hier, mitten im Grünen, war die Zeit stehen geblieben. Anmutig lächelnde Engel, unschuldig dreinblickende Jungfrauen und pummelige Amoretten tummelten sich zwischen üppigem Blumendekor und opulenten Obstkörben, beleuchtet von riesigen Kristalllustern. Zarte Pastellfarben, überschäumendes Gold und jede Menge unnötiger Zierrat beherrschten das Haus wie eh und je. Vor den Toren der Stadt verweigerte Sophies Tante konsequent jedes Zugeständnis an die derzeit herrschende Mode, selbst wenn sie in dem einen oder anderen der zwanzig Zimmer ihrer luxuriösen Stadtwohnung dem wesentlich strengeren Stil der klassischen Antike durchaus zu neuem Glanz verhalf, und sei es, um in Wiens Gesellschaft weiterhin en vogue zu bleiben.
Sie gab Sophie mit dem deutlichen Ausdruck von Missbilligung den Brief zurück. »Wer genau ist dieser August Anschober, der das Schreiben unterzeichnet hat? Ein Meister der Formulierkunst scheint er wahrlich nicht zu sein.«
»Ein entfernter Verwandter meiner alten Gouvernante. Er lebt seit Jahren in Leipzig und hat sich umgehört. Für ein erstaunlich geringes Salär.«
Louise zog eine Augenbraue hoch.
»Ach, Tante, warum sollte er sonst für jemanden, den er nicht kennt, über jemanden, den er nicht kennt, Erkundigungen einziehen?«
»Das ist doch Ehrensache, würde man annehmen.« Mit einer ungehaltenen Handbewegung wischte Louise das Thema vom Tisch. »Wie auch immer. Langsam, mein Kind, muss ich dir beipflichten. Jetzt besteht wirklich nur noch wenig Hoffnung. Es tut mir so unendlich leid für dich. Aber ich fürchte, du musst dich mit der schlimmsten aller Tatsachen abfinden. Auch wenn ich bis heute nicht verstehe, wie es möglich ist, dass ein Offizier seines Geblüts in einer Schlacht fällt und keinerlei Aufzeichnungen darüber existieren.«
»Ach, Tante«, seufzte Sophie erneut. »Er wurde am letzten Tag der Schlacht schwer verwundet, mehr ist einfach nicht in Erfahrung zu bringen. Auch August Anschober fand nur verschlossene Türen vor. Papa hat schon vor Monaten seine Kontakte spielen lassen und nichts erreicht.«
»Was für eine Prüfung, mein Liebes, der du da in so jungen Jahren unterzogen wirst.« Louise betätigte die vergoldete Klingel, die neben ihr auf dem Tisch stand.
Sofort ging die Tür auf.
»Nanette, bring uns heiße Schokolade mit reichlich