Ein Schiff, wurde ihm bewusst. Er befand sich im Bauch eines Schiffes auf dem Weg zu unbekannten Landen.
Die nächste Realität, derer er sich bewusst wurde, war das Gefühl kühlen Metalls, das sich um seinen Hals und Handgelenke schmiegte. Er konnte das Sklavenhalsband und Handschellen nicht erkennen, sie schienen unsichtbar zu sein. Doch sie lagen schwer und eng auf seiner Haut und waren nur allzu real für ihn.
Als er schließlich den Mut fand, sein dunkles Plätzchen zu erkunden, entdeckte er einen Nachttopf, eine Flasche abgestandenen Wassers und eine Schachtel steinharter Kekse. Einen Tag lang konnte er das Essen oder Wasser nicht einmal anschauen, da sein Körper der grausamen Übelkeit zum Opfer fiel, die von den Bewegungen des Schiffes hervorgerufen wurde. Er hatte noch nie auch nur den Ozean gesehen. Tatsächlich hatte er noch nie sein Dorf verlassen, aber er wusste bereits jetzt, dass er das Meer hasste.
Obwohl er wartete, kam niemand.
Das Schiff schaukelte und schwankte und langsam gewöhnte er sich an das Gefühl und sein Körper passte sich an die neuen Umstände an.
Er teilte sich sein Wasser und Essen ein.
Denn immer noch kam niemand.
Eines Tages veränderte sich schließlich der stete Rhythmus des Schiffes. Die Wellen wurden härter, ruckartiger… und dann stoppte die Bewegung ganz. Eine Tür flog auf und Sonnenlicht strömte in den Bauch des Schiffes. Ephraims Erleichterung und Schrecken waren gleichgroß.
Ein unbekannter Mann mit dunkler olivfarbener Haut winkte ihn zu sich und redete in einer harschen und fremden Sprache auf Ephraim ein. Unsicher, was er sonst tun sollte, und weil er wusste, dass es keinen Ort gab, an den er sich in einem fremden Land wenden konnte, ließ sich Ephraim vom Schiff ziehen und auf einen Wagen laden, auf dem Schachteln und Säcke hoch gestapelt worden waren. Als wäre es nicht schon offensichtlich, dass er ein Besitz war, eine Ware…
Das unsichtbare Metall seines Halsbandes abtastend, schluckte Ephraim. Seine Augen waren weit aufgerissen und erfassten die geschäftigen Docks und die hoch aufragenden weißen Mauern einer großen Stadt. Der Wagen trug ihn direkt durch diese hellen Mauern, wobei er hunderte verschiedener Dinge passierte: Pferde, Menschen, Häuser, Stände, an denen Leute Essen und Tränke und Schwerter und eine unendliche Anzahl anderer Gegenstände verkauften.
Eine Stadt, dachte Ephraim. Das muss eine Stadt sein.
Am Ende von Ephraims Sichtfeld erhob sich ein Marmorpalast in den endlos blauen Himmel. Der Wagen stoppte weit entfernt von diesem vor einem dunklen Holzhaus, das mehrere Stockwerke hoch war, gepflegt und groß. Ein auffälliges Schild zierte die Eingangstür, das in einer Sprache beschrieben war, die Ephraim noch nie gesehen hatte. Es befand sich jedoch auch die Skizze einer verführerischen, lockenden Frau darauf.
Warum sollte Ephraim an solch einen Ort gebracht werden?
Der olivhäutige Mann riss ihn vom Wagen und schubste ihn zu der Eingangstür. Ephraim ging, wobei er sich jetzt hilfloser fühlte als in der Dunkelheit des Schiffbauches. Als er das Haus betrat, begrüßte ihn eine Wolke süßlichen, dichten Rauches. Es war so dunkel, dass er die Augen zusammenkneifen musste, um verschwommene Formen ausmachen zu können. Das Zimmer schien nur aus poliertem Holz und niedrigen Möbeln zu bestehen mit Kissen auf den Böden und einem weich aussehenden Stoff, der über den Fenstern drapiert worden war.
Ephraims Hascher bugsierte ihn durch den Raum in einen schwach beleuchteten Flur im hinteren Teil des Hauses. Ganz am Ende drückte der Mann eine Tür auf, stieß Ephraim in das schlicht möblierte weiße Zimmer und deutete auf ein niedriges, ordentlich gemachtes weißes Bett.
Ephraim nahm Platz, als sich die Tür auch schon wieder schloss und ihn allein zurückließ. Und erneut musste er warten; es hatte den Anschein, als würde der Großteil dessen, was er mittlerweile als sein neues Leben bezeichnete, aus Warten und noch mehr Warten zu bestehen. Es gab nichts, das er betrachten oder erkunden könnte, nicht einmal ein einziges Fenster in dem ganzen Raum.
Nach einer ganzen Weile trat schließlich der Zauberer selbst in das Zimmer.
„Da bist du ja“, sagte Crane, als wäre Ephraim irgendwie zu spät gekommen, als hätte er irgendeine Kontrolle über irgendeinen Aspekt seiner aktuellen Lebensumstände. Wenigstens sprach Crane Ephraims Sprache, was ein kleiner Trost war.
„Wo sind wir?“, wollte Ephraim wissen, dessen Stimme leicht brach, weil er sie so lange Zeit nicht verwendet hatte.
„Sind wir in diesem Alter?“, sagte Crane glucksend. „Das perfekte Alter, um in deinen Schuhen zu stecken, junger Mann. Um deine Frage zu beantworten, du bist in London.“
„London“, wiederholte Ephraim. „Wo liegt das?“
Crane lachte.
„Nur eine Welt entfernt von dem Ort, an dem ich dich fand.“
„Warum bin ich hier? Warum wollten Sie mich von meiner Familie wegholen?“ All die Fragen, die er die vergangenen Monate immer wieder im Kopf durchgegangen war, purzelten nun ungebeten aus seinem Mund.
„Du wirst zwar jetzt nicht der gleichen Meinung sein, aber ich denke, ich habe dich vor einem viel schlimmeren Schicksal bewahrt“, erklärte Crane und verschränkte seine Arme.
„Schlimmer, als ein Halsband zu tragen?“, fauchte Ephraim.
Zu seiner Überraschung kräuselten sich Cranes Lippen belustigt.
„Ich denke, ja. Ich denke, dich hätte ein recht unglückseliges Schicksal ereilt, hätte ich dich nicht als Teil des Handels mitgenommen. Dein Bruder… Egrel, so hieß er doch? Er hat dich gleich zu Beginn angeboten. Und der andere hat ihn nicht aufgehalten.“
„Sie lügen“, zischte Ephraim. „So etwas würden sie niemals tun.“
„Du warst dort“, erwiderte Crane, dessen Belustigung verblasste. „Und nenn mich nie wieder einen Lügner. Ansonsten wirst du es schwer bereuen.“
„Also bin ich jetzt ein Sklave, stimmt das? Warum möchten Sie mich als Sklaven?“, verlangte Ephraim zu wissen, obwohl er jede Menge Zeit gehabt hatte, um sich eintausend fürchterlicher Gründe auszudenken.
„Du bist viel mehr als das. Du bist ein Dschinn“, sagte Crane, der das Wort wie tschen aussprach.
„Ein Dschinni aus der Wunderlampe?“, schnaubte Ephraim, der diese Kindergeschichte recht gut kannte. „Ich bin nichts Derartiges. Ich bin ein Gestaltwandler, genau wie mein Vater.“
„Das bist du, ja. Aber jetzt bist du mehr. Du wirst schon sehen“, entgegnete Crane. Er zog einen dünnen Kreis glänzenden, geschmiedeten Goldes hervor. An dem Ring baumelten drei lange, elegante goldene Schlüssel. „Knie dich hin.“
Ephraim versuchte, seinen Mund zu öffnen, um zu protestieren, aber ein flammender Schmerz schoss durch seinen gesamten Körper. Cranes Befehl donnerte durch seinen Kopf und hämmerte auf seine Gedanken ein, bis er sich auf seinen Knien wiederfand und zu dem Zauberer aufsah.
„Was haben Sie getan?“, flüsterte Ephraim.
„Ich habe mir gewünscht, dass du kniest. Ich habe es laut ausgesprochen, während ich die Schlüssel in der Hand hielt“, erklärte er und ließ die Schlüssel in der Luft klimpern. „Du hattest keine andere Wahl. Du lebst jetzt, um zu dienen.“
„Ihnen dienen? Warum sollte ich das tun wollen?“, fragte Ephraim. Er erhob sich schwankend und mit hämmerndem Herzen auf die Füße. Sein Halsband fühlte sich so eng an wie noch nie und er zerrte mit ungeschickten, verzweifelten Fingern daran.
„Das wirst du niemals abkriegen“, informierte ihn Crane ruhig. „Du wirst einige Zeit demjenigen dienen, wem auch immer ich dich übergebe. Und dann dem Nächsten… und dann dem Nächsten. So wird es sein.“
„Es gibt keine Möglichkeit sich davon zu befreien, jemals?“,