Den damaligen Standards einer »Rettungsethnologie« entsprechend war ich jedoch weniger an einer afrikanischen Moderne interessiert als an ihrem Gegenbild, an vom Kolonialismus möglichst unberührten Traditionen. Ich hatte mir deshalb eine Gegend im Norden der Tugenberge ausgesucht, wo die Bewohner »noch wie ihre Väter lebten«. In dem Dorf Bartabwa ließ ich mich nieder und begann meine ethnografische Arbeit, ahnungslos und ziemlich ignorant.
Bartabwa war zwar eine koloniale Gründung und diente als Handels- und Verwaltungszentrum, aber die Mehrzahl der Bevölkerung lebte weiter entfernt in verstreuten, kreisrunden Gehöften in den Bergen. Bartabwa bestand aus einer staubigen, nicht asphaltierten Straße mit tiefen Löchern und Rinnen, die Ende der 1950er-Jahre fertiggestellt worden war und sich in der Regenzeit in eine kaum befahrbare Rutschbahn verwandelte. Zu beiden Seiten der Straße standen »moderne« rechteckige Holzhäuser mit Wellblechdach, die an Orte im Wilden Westen erinnerten. Einige der Holzhäuser beherbergten kleine Geschäfte, die Batterien, Taschenlampen, Salz, Zigaretten, Kerzen, Seife – vor allem das Waschmittel Omo – und diverse Konservenbüchsen verkauften. Da die Kundschaft mit wenigen Ausnahmen sehr arm war, wurden Zigaretten einzeln oder sogar halbiert verkauft. Andere Häuser dienten als kleine Bars, die Bier, Tee, Chapati und Bohneneintopf, Kartoffeln und Maisbrei anboten. Es gab auch einen Marktplatz, auf dem Frauen aus der Umgebung zweimal pro Woche Gemüse, Früchte und fertiggekochte Speisen verkauften. In einem der Häuser hatte der einzige wohlbeleibte Mensch in Bartabwa, nämlich der Häuptling, sein Büro. Außerdem gab es eine Maismühle, eine Grundschule und eine Krankenstation.
Zwei Monate nach meiner Ankunft starb Kenyatta, und Daniel arap Moi übernahm die Macht. Damit wurden die Bewohner der Tugenberge »the President’s people«. Viel Geld floss plötzlich in die Region, und eine rasante Entwicklung fand statt. Vor allem der Süden wurde durch eine elegante moderne Asphaltstraße, auf der allerdings weniger Autos als vielmehr Ziegen verkehrten, mit Nakuru, der nächstgrößeren Stadt, verbunden. In Kabarnet, der Distrikthauptstadt am Fuße der Tugenberge, entstanden in Windeseile drei antiken Tempeln nachempfundene pompöse Gebäude: eine Post, ein Supermarkt und eine Schule, die den Rest des Ortes umso erbärmlicher aussehen ließen.
Der neue Präsident Daniel arap Moi stammte aus einem Dorf mit Namen Kabartonjo, das etwa in der Mitte der sich in Nord-Süd-Richtung erstreckenden Tugenberge liegt. Hier war er geboren, und bis hierhin führte die asphaltierte Straße, keinen Schritt weiter. Die Bewohner des Nordens, so auch die aus Bartabwa, blieben von der neuen Straße, den Strömen des Geldes und den beschleunigten Entwicklungsprozessen weitgehend ausgeschlossen. Sie mussten als immer noch »Arme«, »Primitive«, »Unterentwickelte« und »Zurückgebliebene« für ein verachtetes Gegenbild in einem Nationalstaat herhalten, der »Fortschritt« und »Entwicklung« propagierte. Neben die räumliche Differenz trat eine zeitliche. Obwohl die Bewohner des Nordens gleichzeitig mit denen im Süden existierten und beide den gleichen Raum, die Tugenberge, teilten, wurden sie in ein »Vorher« und ein »Noch-Nicht« gezwungen. Mit der Verzeitlichung des Gegenbildes entstand eine Dynamik der Negation, der Herabsetzung und Ausgrenzung, die letztlich – vor dem Hintergrund des Versprechens auf Modernisierung und Fortschritt – auf Aufhebung zielte. So wiederholte und bestätigte sich die Zweiteilung der Welt in sogenannte entwickelte und unterentwickelte Regionen hier noch einmal – in Verzerrung und Abhängigkeit.
Die Bewohner von Bartabwa nahmen das sehr wohl zur Kenntnis. Als einige Jahre später eine schlimme Dürre sie heimsuchte und die Regierung keine Hilfe schickte, nannten sie die Hungersnot »nyayo«. Nyayo war der Slogan, den der neue Präsident nach seiner Machtübernahme ausgegeben hatte und der für seine »Philosophie des Friedens, der Liebe und Einheit« stand. Doch der Präsident und seine Anhänger betrieben in den folgenden Jahren nicht nur eine brutale »Politik des vollen Bauches«, der Korruption und des Raubes, sondern auch – um an der Macht zu bleiben – eine verstärkte Politisierung und sogar Militarisierung von Ethnizität, die in den 1990er-Jahren zu gewalttätigen ethnischen »Säuberungen« führten. Dabei sollten Bewohner der Tugenberge sowohl zu Tätern als auch zu Opfern werden.
Es ist kein Zufall, dass die Bewohner Bartabwas in den 1980er-Jahren die eigene nationale Regierung als »chumbek« bezeichneten, eigentlich eine Bezeichnung für Europäer, die Kenia und die Tugenberge kolonialisiert hatten. Offensichtlich sahen sie keine Veranlassung, die Zeit der Kolonialisierung, Unterdrückung und Ausbeutung als vergangen zu betrachten. Trotz des Wechsels der Herrschenden war die Kolonialzeit für sie nicht beendet. Das »post-« in postkolonial erkannten sie nicht an.
5
In Kabarnet stiegen mein Sohn und ich in ein Matatu, ein sogenanntes Buschtaxi, das uns nach Bartabwa bringen sollte. Es war ein uralter klappriger Jeep mit durchlöchertem Boden; wenn er sich, vollbepackt, auf der holprigen, von großen Kratern durchzogenen Straße nach rechts oder links neigte, sprang die jeweilige Seitentür auf. Die Räder waren, wie sich auf der Fahrt herausstellte, nicht ordentlich befestigt: Schrauben fehlten. Wir hatten die sichersten Plätze, saßen neben dem Fahrer vorne in der Mitte und konnten, wenn die Türen sich öffneten, nicht hinausfallen. Der Mann rechts neben mir versuchte mit einer Hand die Tür geschlossen zu halten und streckte immer wieder den Kopf aus dem Fenster, um das Vorderrad zu beobachten und den Fahrer rechtzeitig zu warnen. Es lockerte sich tatsächlich, wir hielten an, und der Fahrer wechselte es gegen ein anderes aus, das jedoch auch nur mit drei Schrauben befestigt wurde. Wir fuhren weiter, bis auch dieses Rad sich löste.
Trotz der Pannen war die Stimmung unter den Fahrgästen hervorragend. Sie scherzten, erzählten Witze und gaben den übrig gebliebenen Schrauben die Namen berühmter Krieger, die besonders tapfer gewesen waren – vielleicht in der Hoffnung, dass die Schrauben sich nun auch als tapfer und widerständig erweisen würden. Doch die Namensgebung half nicht, es gab kein weiteres Ersatzrad. Wir blieben auf der Strecke. Nach etwa drei Stunden kam ein anderes Matatu angefahren und nahm uns mit nach Bartabwa. Dort angekommen stiegen wir aus. Wir waren Besucher, die nicht eingeladen waren. Wir waren Fremde, die zu Gästen gemacht werden mussten.
Ich hatte damals keine Ahnung, ob überhaupt und wenn ja, wie viel meine Forschungsgenehmigung wert war und inwieweit sie Schutz und Unterstützung bedeutete. Ich wusste nur, dass mein erster Ansprechpartner der Vertreter des Staates, der Häuptling, war. Wir suchten sein Büro in der Hauptstraße auf; ich zeigte meine Forschungsgenehmigung vor, und der etwas überraschte, aber freundliche Häuptling stellte nach kurzer Überlegung meinem Sohn Henrik und mir eine leer stehende, etwas verfallene Hütte zur Verfügung. Henrik, damals sieben Jahre alt, war ein antiautoritär erzogenes Berliner Kinderladenkind, offen, neugierig und rotzfrech. Da Bartabwa bis dahin nur von erwachsenen Europäern, vor allem katholischen Missionaren, besucht worden war, avancierte er zu einer exotischen Sehenswürdigkeit. Von weit her kamen die Bewohner der Berge, um ihn zu betrachten. Henrik half in den kleinen Geschäften und lockte Kunden an; er bewachte mit den anderen Kindern die Maisfelder, hütete Ziegen und Schafe, lernte mit Keulen werfen und hantierte – wie Tarzan – mit Pfeil und Bogen. Er wurde mit Gaben überschüttet, bekam sogar eine Ziege geschenkt. Im Gegensatz zu mir lernte er die lokale Sprache in Windeseile und erzählte mir abends Klatsch und Tratsch. Wie in den Tugenbergen üblich wurde er nicht nach mir, sondern ich nach ihm »Mama Henry« genannt.
Wie ich später lernte, erhalten Frauen und Männer im Lauf ihres Lebens viele verschiedene Namen. Das rituelle Geben von Namen ist eine (auto-)biografische Praxis. Kurz nach der Geburt bekommt ein Kind in einem »kleinen« Ritual den Namen eines Ahnen. Vorher finden die Ältesten in einem Orakel den Ahnen heraus, der »ein gutes Leben führte« und bereit ist, dem Kind seinen Namen zu geben. Jede Lineage verfügt nur über eine bestimmte Anzahl von Namen, die unter den Angehörigen, den Toten und den Lebenden, zirkulieren; neue Namen gibt es nicht. Die Namen sind dauerhafter als die Menschen, die sie tragen. Und sie verpflichten: Ein Kind erhält im Namen als Zukunft die Vergangenheit eines und damit vieler Vorfahren. Es lebt in gewisser Weise in umgekehrter Richtung, denn es muss dem Namen des Ahnen gerecht werden, sein Leben nach ihm ausrichten, es wiederholen. Doch ist der Ahne, dessen Name so übermächtig das Leben seines Nachkommen bestimmt, tot. Sein »Leben« gehört den Lebenden, sie können es biegen und zu eigenen Zwecken nutzen. Erweist sich die Beziehung zwischen Kind und Ahne als unglücklich, wird der Ahne ausgetauscht. Er muss sich als der Richtige