Während der Kolonialzeit begann sich der Gebrauch von westlichem Kalender und von Uhren durchzusetzen. Obwohl die ersten Uhren vor allem Prestigegüter waren und nur wenig Einfluss auf das Alltagsleben nahmen, führten vor allem Schulen und andere westliche Institutionen die abstrakte Zeit ein und sorgten für radikale Veränderungen. Ich erinnere mich an einen Lehrer in Kabartonjo, der sich anbot, für uns eine Sightseeingtour zu organisieren. Er wollte uns die Klippen zeigen, von denen die zu alt gewordenen Ältesten, die ihre Altersklasse überlebt hatten, in den Tod springen mussten,12 sowie einige Höhlen, in denen die Sirikwa, die ersten Europäer, gelebt hatten. Er trug eine Armbanduhr und hatte einen genauen Zeitplan ausgearbeitet: 10:52 Uhr Abfahrt, 11:33 Uhr Ankunft bei den Klippen und so weiter. Er bestand auf der Einhaltung seines Plans, und wir mussten hetzen, um ihn zu erfüllen. So führte er mir in karikierender Weise meinen eigenen Umgang mit der Zeit vor Augen.
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Nachdem ich zu Kopcherutoi, meiner neuen Mutter, auf den Berg Rimo gezogen war, nahm ich Anfang der 1980er ein Polaroidfoto von ihr auf. Ich bat um Erlaubnis, und sie willigte ein. Für das Foto posierte sie nicht. Sie ging weiter ihrer Arbeit nach und kümmerte sich nicht um mich; als die Kamera klickte, schaute sie kurz auf. Ich schenkte ihr das Foto, ein fremdes Bild ihrer Person. Sie hielt es verkehrt herum, sah flüchtig hin, lächelte und verbarg es unter einem Stein ihres Vorratsspeichers. Ich weiß nicht, ob sie sich erkannte. Zu ihrem Haushalt gehörte kein Spiegel. Wenn sie sich selbst sehen wollte, konnte sie ihr Abbild auf einer Wasseroberfläche spiegeln. Ansonsten war sie vor allem das, was andere in ihr sahen. Später zeigte Kipsang ihr ein weiteres Foto und erklärte ihr, dass sie diejenige sei, die dort abgebildet war. Sie lächelte wieder und legte das Foto beiseite; es interessierte sie nicht.
In vorkolonialer Zeit stellten die Bewohner der Tugenberge keine Porträts in Form von Bildern, Masken oder Skulpturen her. Wie in anderen eher pastoralen Gesellschaften war ihre materielle Kultur auf das Notwendigste beschränkt. Die Ältesten nutzten, wie bereits erwähnt, den menschlichen Körper, um die soziale Biografie buchstäblich in ihn einzuschneiden. Wunden, und später Narben, zeigten den anderen, wer man war.
In den 1950er-Jahren, noch vor dem Ende der Kolonialzeit, eröffneten vereinzelt Fotostudios in den größeren Orten der Tugenberge – nicht in Bartabwa – und gaben vor allem den Jüngeren die Möglichkeit, fotografische Porträts von sich und anderen zu bekommen. Während die Jungen und »modernen« Leute einen kleinen Kult mit Fotos betrieben, zeigten die Ältesten kaum Interesse. Sie waren jedoch nicht bilderfeindlich, wie die weiter nördlich lebenden Pokot, die den Akt des Fotografierens und Filmens als eine Form des Raubes ansahen, der ihnen Substanz nahm und sie dünner werden ließ. Wenn Touristen sie fotografieren wollten, verweigerten sie sich oder verlangten sehr viel Geld. Im Gegensatz dazu verhielten sich die Ältesten in Bartabwa, wie schon Kopcherutoi, Bildern gegenüber eher gleichgültig.
Was bedeutet es, in einer solchen Gesellschaft zu filmen oder zu fotografieren? Da die Ältesten große Erzähler, Künstler des Wortes und der Gesten waren, wollte ich unbedingt einen Film über sie und ihre Sicht auf die Welt drehen. Als Teil meiner Ausbildung an der Berliner Film- und Fernsehakademie wollte ich das »endlose Gespräch«, das wir begonnen hatten, vor der Kamera fortsetzen. Ich fragte Kopcherutoi, Aingwo, Kabon und den Wahrsager Sirpen, ob sie mir erlauben würden, sie zu filmen. Da ein paar Jahre zuvor katholische Missionare einen Jesus-Film in Bartabwa gezeigt hatten, kannten sie das Medium bereits. Sie waren einverstanden und gaben mir die Erlaubnis, sie so aufzunehmen, wie sie sich vor der Kamera darstellen wollten.
Zusammen mit der Kamerafrau Hille Sagel13 habe ich 1980/81 zwei ethnografische Filme in den Tugenbergen gedreht: Im Bauch des Elefanten (1982) und Gespräche mit Kopcherutoi (1985). Im Gegensatz zu mir hatte Hille bereits Filmerfahrungen gesammelt und schon erfolgreich einen Spielfilm gedreht. Sie besuchte Afrika zum ersten Mal. Wir hatten deshalb ausgemacht, dass, falls sie mit der Situation vor Ort nicht zurechtkäme, sie jederzeit nach Hause fahren könne. Doch Hille zeigte sich den manchmal abenteuerlichen, für sie neuen technischen, kulturellen und sozialen Herausforderungen in den Tugenbergen überaus gewachsen.
Als sie eines Abends in unserem Haus von einem Skorpion gebissen wurde, bewahrte sie eine erstaunliche Gelassenheit, während ich in Panik geriet. Ich hatte von Skorpionen in Mexiko gehört, deren Biss tödlich endete, und in meinem Ratgeber für die Tropen nur den Hinweis gefunden, sofort den nächsten Arzt aufzusuchen. Das hätte mit dem Auto fünf Stunden gedauert, aber wir hatten kein Auto. Ich rannte zu unserem Nachbarn, der sogleich mit einem dicken Stock in der Hand zu uns kam. Mit einem Schlag erledigte er den Skorpion, der sich unter einer blauen Plastikschüssel versteckt hatte. Er sah sich den Leichnam an, schaute dann auf Hilles geschwollenen, roten Fuß und befand, der Biss sei nicht tödlich. Hille werde nachts starke Schmerzen haben, aber morgen Früh sei das vorbei. Sie schluckte drei Aspirintabletten und schlief gegen Morgen endlich ein. Am Nachmittag ließ sie sich nicht davon abbringen, die Filmarbeit wieder aufzunehmen. Nach diesem Ereignis begann sie, eine Liste über all die Tiere zu führen, die sie bissen. Glücklicherweise kam kein zweiter Skorpion hinzu, aber einige Floh– und Mückenstiche musste sie verzeichnen. Die Übersetzung ins Bürokratische half ihr (und mir), ein wenig Handlungsmacht, Ordnung und Kontrolle zurückzugewinnen, die wir in der Nacht des Skorpions verloren hatten. Ich jedoch entwickelte eine mörderische Gewohnheit. Jeden Abend, bevor es dunkel wurde, näherte ich mich vorsichtig mit einem Schuh in der rechten Hand der blauen Plastikschüssel, hob sie behutsam hoch und erschlug den (neuen) Skorpion, der sich dort versteckt hatte.
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