Abbott ist dabei der festen Überzeugung, dass eine prozessuale Soziologie in ontologischer Hinsicht so formuliert sein muss, dass sie der ungeheuren Diversität historischer Erfahrungen gerecht werden kann.103 Seine scheinbar abseitige Beschäftigung mit Weltliteraturen ist somit eigentlich zentral, um seine Haltung nachzuvollziehen: Über Jahre hat er unter dem Pseudonym Barbara Celarent Rezensionen im American Journal of Sociology geschrieben, lange und grandiose Kritiken – in Wahrheit oft soziologische Analysen – von Romanen, Essays und politischen Schriften aus diversen Jahrhunderten und Weltregionen.104 Er macht damit deutlich, dass nur die Kenntnis unterschiedlicher kultureller und historischer Kontexte eine zu entwickelnde Prozesstheorie daran hindert, in ethnozentrische Fallen zu tappen und Verkettungen schon immer zu unterstellen (oder nicht zu sehen), weil sie im sogenannten Westen vorhanden bzw. nicht vorhanden sind.
Abbott hat über die Jahre – Stichwort »zu entwickelnde Prozesstheorie« – ein theoretisches und methodologisches Repertoire formuliert, mit dem er in diverse Themenbereiche vorstößt und in (sozial-)theoretische Debatten interveniert, in der Regel ohne sich bereits bestehenden Positionen anzuschließen. Er äußert sich zu Pfadabhängigkeiten und Wendepunkten, zu Narration, Struktur und Ereignis, zur unhintergehbaren Historizität von Individuen oder zu kausalen Mechanismen. Er nimmt zur (technologischen) Zukunft der Bibliotheken ebenso Stellung wie zur normativen Zukunft der Sozialwissenschaften.105 Gleichzeitig ist nicht absehbar, dass Abbotts Suche nach einer prozessualen Soziologie in nächster Zeit einen Abschluss findet. Das hängt maßgeblich mit seiner Arbeitsweise zusammen, die nicht ohne Brüche und Wendungen ist.
VAuf der Suche nach der nächsten Revision
Einführungen in das Werk einer Autorin oder, wie in unserem Fall, eines Autors laufen nicht selten Gefahr, die betreffende Forschungsbiografie konsistenter und geradliniger zu beschreiben, als sie es tatsächlich ist. Das haben wir zu Beginn bereits angedeutet. Abbott selbst hätte für ein solches Vorgehen sicher kaum Verständnis. Im Hinblick auf sich selbst schiebt er entsprechenden Avancen konsequent den Riegel vor, indem er immer darauf hinweist, dass die Texte, die er veröffentlicht, in der Regel keine simplen Fortsetzungen bisheriger Arbeiten sind. Was er, wie gesehen, mithilfe des Konzepts des Encoding ganz generell über das Problem der Fortführung vergangener sozialer Strukturen in die Gegenwart sagt, gilt selbstverständlich auch für sein eigenes Werk.
Im Kern legt es Abbott, um es provokant zu formulieren, permanent darauf an, seine eigenen Thesen zu revidieren. Was dadurch für manche unsystematisch wirken mag, lässt sich durchaus auch als besondere Qualität des Werks würdigen. Abbotts Schaffen ist durch eine produktive Unruhe gekennzeichnet, die sich nicht nur darin erschöpft, gesellschaftliche Mythen zu dekonstruieren. In einer Rede vor jungen Chicagoer Studierenden spricht er z.B. der Erziehung jegliche Zielrichtung ab, außer derjenigen, in der jeweiligen Gegenwart genossen zu werden.106 Diese Unruhe erschöpft sich auch nicht darin, den eigenen Job als denjenigen eines rigorosen und strengen Kritikers seiner Kolleginnen zu begreifen: »Of course it is my job to question the whole thing«, leitet er einen Kommentar zu einem Vortrag seines Freundes Pierre-Michel Menger ein – ein Job, den er nicht zuletzt jahrelang als Herausgeber des American Journal of Sociology gemacht hat.107 Vielmehr arbeitet Abbott vor allem fortwährend daran, seine eigenen Positionen infrage zu stellen. Begreift er beispielsweise zur Jahrtausendwende sein Argument über die Selbstähnlichkeit des sozialen Lebens noch entlang von »Dichotomien«, entlang derer sich beispielsweise die sozialwissenschaftlichen Disziplinen kontinuierlich entfalteten und wandelten,108 würde er anderthalb Jahrzehnte später eher von »Binaritäten« sprechen. Der Ausdruck »Dichotomie«, so Abbott neuerdings, rieche mittlerweile zu sehr nach Szientismus, wie er mit Blick auf seine starke Prominenz in US-amerikanischen Arbeiten zum Feminismus und zu »race« einräumt.109 Neben begrifflichen Anpassungen zählt dazu ebenfalls die Revision mindestens eines Texts, an dem Abbott schon seit Jahren schreibt. Schon seit Ende der 1990er Jahre arbeitet er an einer sozialtheoretischen Monografie mit dem Arbeitstitel The Social Process – und nachdem er das Manuskript bereits 2003, 2008 und 2010 grundlegend überarbeitet hatte, saß er 2016 an einer weiteren Revision dieses Buches, von dem er selbst meint, dass er hier die wesentlichen Argumente einer prozessualen Soziologie konsistent zusammenführen wird.110
Beides, begriffliche und textliche Revisionen, sind gleichwohl nur Epiphänomene eines grundlegenden Modus der Überarbeitung, der Abbotts soziologisches Denken auszeichnet, obwohl er sicherlich auch als eine Erklärung der holprigen Rezeptionsgeschichte des Autors herangezogen werden muss, auf die wir oben hingewiesen haben. Er ist offen dafür, sich einzugestehen, dass bisherige Positionen zwar nicht fundamental falsch, so doch unzureichend sind – selbst wenn ihn das in intellektuelle Krisen führt. Bezeichnend ist, dass er Anfang der 1990er entdeckte, dass er sozialstrukturelle Fragen zu sehr vernachlässigt hatte, um eine überzeugende soziologische Theorie der Temporalität des sozialen Lebens, des »social process«, zu formulieren111 – was ihn u.a. dazu führte, das Konzept des Wendepunkts im Hinblick auf Fragen sozialer Ordnungsbildung zu diskutieren112 oder das bereits mehrfach angesprochene Konzept des Encoding zu einem fortwährenden Bezugspunkt seines Theoretisierens zu machen.
Sein Arbeiten ist dabei geleitet von einer Ahnung, einer ersten groben Idee – »you are just feeling around for stuff before you find out what you are actually looking for«113. Das schließt nicht aus, dass sich diese Form des Entdeckens, ja soziologisches Entdecken ganz allgemein, nicht systematisch betreiben ließe. Abbott legt dazu 2004 mit Methods of Discovery ein grundlegendes Werk vor.114 Dafür baut er auf eigene Forschungen zur sozialwissenschaftlichen Generierung von Wissen. Seine These ist, dass sich der Kenntnisstand dieser Disziplin über ihre Gegenstände repetitiv entwickelt – und nicht kumulativ, wie es üblicherweise die Hoffnung vor allem derjenigen Kolleginnen ist, die Sozialwissenschaften als enge Verwandte der Naturwissenschaften (Sciences) begreifen wollen, weniger der Geisteswissenschaften (Humanities). Mit dieser These markiert Abbott eine grundlegende Ambivalenz der Sozialforschung. Denn die Sozialwissenschaften entdeckten ihm zufolge das Rad einerseits immer wieder aufs Neue, wie er vergleichsweise scharf formuliert. Die jüngere Generation übertrumpfe stets die ältere, »then calmly resurrects their ideas, pretending all the while to advance the cause of knowledge. Revolutionaries defeat reactionaries; each generation plays first the one role, then the other.«115 Andererseits sind die Sozialwissenschaften dadurch auch außerordentlich kreativ – was Abbott mit Methods of Discovery explizit positiv herausstreichen möchte.116
Diese Kreativität der Sozialwissenschaften resultiere dabei maßgeblich aus ihrer fraktalen Organisation und der daraus erwachsenden, gerade bereits kurz angesprochenen Selbstähnlichkeit ihrer symbolischen Strukturen. Allgemein formuliert sind Fraktale geometrische Strukturen, die unabhängig davon, ob man sie als ganze, ausschnitthaft oder mit Blick auf ihre Letztelemente betrachtet, dieselbe Gestalt aufweisen.117 Das meint Selbstähnlichkeit. Abbott überträgt diesen Gedanken auf die Sozialwissenschaften: Sie sind anhand mehrerer Binaritäten selbstähnlich aufgestellt,