»The defensibility of an entity, its ›structural resilience‹, is associated with its ›causal authority‹, which increases with the number and solidity of its footholds in different orders of reality (or in ›several different dimensions of difference‹), and with the ›connections‹ that these forge ›across long reaches of the social world.‹«78
Die Arbeit der Sozialforscherin endet nicht in Beweisen, was alles konstruiert sei. Aus Sicht Abbotts ist die gesamte soziale Welt von den Akteuren ohnehin immer schon konstruiert. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, sofort nach der kausalen Wirkung dieser Ereignisse in einem Kontext und nach Ereignisverkettungen und ihren jeweiligen Temporalitäten zu fragen. Wie Abbott deshalb im Anschluss an den späten Mead sagen wird, ist die soziale Welt eine Welt von Ereignissen79 – und nicht eine von (fixierten) Entitäten oder Gebilden.80 Um es auch an dieser Stelle noch einmal zu betonen: Abbott denkt somit nicht in Kategorien einer beständigen sozialen Welt mit darin vorfindbaren Dingen und Gebilden, sondern an eine Welt als Bündel von Prozessen, weil sich eben auch die vermeintlichen Entitäten stets neu konstituieren und transformieren.81 Daraus folgt zudem, dass Abbotts Schriften ein scharfer antiteleologischer Zug durchzieht: Denn der Sozialforscherin ist die Welt nie als ganze gegeben. Eine »vollständige Darstellung des sozialen Prozesses«82 muss scheitern, aus der Vergangenheit lässt sich niemals eine zusammenhängende Erzählung generieren.83 Möglich ist allenfalls der Blick auf einzelne prozessuale Abläufe,84 deren Zusammenspiel aber nicht vorhersehbar, auch nicht retrospektiv vollständig rekonstruierbar ist. Die Soziologie kann höchstens anstreben, räumlich und zeitlich begrenzte Kausalitäten, solche, die in einem ökologischen Raum nachvollziehbar sind, aufzudecken.85 – Kausalität ist hier somit weder deterministisch noch teleologisch gedacht, sondern im Grunde singulär. Abbott vertritt die Position, dass Okkurrenzen im Sinn von immer wieder aufs Neue stattfindenden Gegenwarten weder in einer umfassenden Weise durch ihre Vergangenheiten noch durch ihre Zukünfte bestimmt sind. Die jeweilige Gegenwart ist vielmehr »stets offen für neues Handeln […], während sie gleichzeitig jederzeit Vergangenheit wird, ja, dass es das Handeln in der Gegenwart ist, das die Gegenwart zur Vergangenheit macht«86. Es ist daher kaum verwunderlich, wenn Abbott allzu großflächigen Prozessbegriffen, wie sie in den Sozialwissenschaften gängig sind, mit größter Skepsis gegenübersteht.87 Geschichte ist für Abbott die Abfolge prekärer Gegenwarten – Gegenwarten, die immer auch sofort vergehen, dadurch aber soziale Realität konstituieren.88
Der Fokus auf die Gegenwart, der sich nun bei Abbott findet, dessen wissenschaftliche Laufbahn – wie gesehen – mit einer Historischen Soziologie von Professionen begann, bedeutet selbstverständlich nicht, dass er nun einen ahistorischen Zugriff auf das Soziale bevorzugt. Ganz im Gegenteil: Abbott redet, angelehnt an Clifford Geertz’ Ausdruck der »dichten Beschreibung«, von »dichten Gegenwarten«89. Diese Gegenwarten lassen sich immer nur zeitlich und räumlich lokal erfahren,90 sie sind unvermeidlich indexikal. Eine globale Gegenwart, d.h. die Gleichzeitigkeit aller sozialen Ursachen, ist nicht denkbar, denn »es dauert, bis Ursachen und Wirkungen durch die Sozialstruktur gesickert sind«91, weil etwa die kausalen Effekte des Handelns von Akteur A auf Akteur B unmittelbar und sofort sichtbar sein mögen, diejenigen auf C jedoch erst sehr verzögert auftreten können, weshalb die Vorstellung einer universellen Gegenwart, die man als Newton’sche Gegenwart in ihrer Gänze erkennen könnte,92 (zumindest für die soziologische Forschung) fehlgeleitet wäre.
»Genau genommen definiert jeder ›Radius‹ um ein bestimmtes fokales Ereignis im Wesentlichen einen ›Wirkungskegel‹, der in die Vergangenheit zurückreicht, sodass eine Wirkung, die von irgendeinem Ereignis ›innerhalb‹ dieses Kegels ausgesandt wird, bereits von dem fokalen Ereignis oder den ›Nachfolgern in seiner Entwicklungslinie‹ erfahren wurde. Dasselbe gilt für den Blick in die Zukunft: Es wird einen Wirkungskegel der Art geben, dass eine Wirkung, die von irgendeinem Ereignis innerhalb des Kegels emittiert wird, bis zu dem Newton’schen Moment, an dem die Wirkungen der äußersten Ereignisse des Kegels eintreffen, von dem fokalen Ereignis erfahren worden sein wird. All dies impliziert, dass der soziale Raum und die soziale Zeit in Wirklichkeit logische Transformationen voneinander sind und als eine einzige Eigenschaft aufgefasst werden können, die sich als ›Stelle‹ oder ›Ort‹ bezeichnen lässt.«93
Die radikale Gegenwartsorientierung, die Abbott vertritt, läuft dabei auf ein kompliziertes Problem zu, das sich sowohl sozialtheoretisch als auch methodologisch stellt. Wenn es stimmt, dass Gegenwarten jeweils Vergangenheiten und Zukünfte haben – wie sind diese zu Narrativen verknüpft, die von Dauer sind? »How then can one have narratives that are wholes-enduring things with influence over the future?«94 Abbott fasst dieses Problem als Encoding, als Einschreibung – und macht gleichsam die Entdeckung, dass er, wir befinden uns in den 1990ern, zuvor kaum nennenswert darüber nachgedacht hat, wie die Zeitlichkeit des Sozialen mit historischen Sozialstrukturen zusammenhängt. Das Konzept der Einschreibung soll für diesen Zusammenhang sensibilisieren, da es darauf aufmerksam macht, dass soziale Strukturen der Vergangenheit kausale Relevanz für die unvermeidlich indexikalen Gegenwarten haben, weil sie hier in veränderter Gestalt wieder auftreten – nur wie sie konkret relevant sind, das ist ebenfalls indexikal und somit empirisch zu klären:
»[T]the structural past is well and truly gone. It can have its influence – this was one of those cases where you form the sentence then you try to figure out what the words in it actually mean – only if it somehow encodes itself into the present on a continuing basis.«95
Genau in diesem Diskussionskontext findet dann auch wiederum der Begriff der Ökologie seine theoretische Verankerung. Eben weil die Gegenwart sowohl dicht als auch »encoded« und der soziale Prozess im Ganzen uns nicht zugänglich ist, müssen wir uns auf »Regionen der Gegenwart konzentrieren«96, in denen von uns noch bestimmte kausale Verkettungen von Ereignissen nachvollzogen werden können, eben auf »Ökologien«. Und gelegentlich wird es dann den Sozialforschern gelingen, einige kausale Verbindungen zwischen einzelnen Ökologien, zwischen einzelnen Professionen etwa, die Abbott schon ganz früh in seiner Laufbahn untersucht hat, aufzudecken im Sinne von »linked ecologies«. Mehr aber dürften und sollten wir nicht erhoffen. Allzu generalisierende Narrative sind mit Skepsis zu betrachten, wollen wir nicht »nachträgliche Rationalisierungen dieser aufeinanderfolgenden Gegenwarten« produzieren.97
Wenn sich nun die Welt als eine Welt von Ereignissen und ihrer Verkettungen darstellt, die nur über die historisch fundierte Analyse »dichter Gegenwarten« zugänglich ist, dann folgt für Abbott daraus auch eine Kritik zeitgenössischer soziologischer Argumentationsmuster. Ihm zufolge ist es weder sinnvoll, Ereignisse irgendwie scharf von Strukturen abgrenzen, noch auf den üblichen soziologischen Mikro-Makro-Unterscheidungen aufzubauen, die mit Ebenenvorstellungen des Sozialen arbeiten, dafür jedoch oftmals unterstellen, eine Ebene sei realer als die anderen, weil von ihr die ontologische Prägung der sozialen Welt ausgehe.98 Die betreffenden Unterscheidungen sind Abbott zufolge sinnlos, real sind – um es zu wiederholen – Okkurrenzen und Ereignisse, die narrativ verkettet sind. Es emergieren lediglich Entitäten (wie prekär und fluid auch immer),99 von denen aber nicht behauptet werden kann, die einen seien wirklicher als die anderen, wie es etwa stillschweigend im Coleman’schen Badewannenmodell unterstellt wird.100 Abbott strebt also nicht eine Soziologie an, die eine Art Mikrofundierung betreibt, also – wie dies etwa bei Randall Collins der Fall ist101 – den basalsten Mikrovorgängen des Sozialen irgendwelche ontologische Priorität zuerkennen will. Ganz im Gegenteil: Abbott möchte auf eine Soziologie hinaus, die es sich zum Ziel setzt, je unterschiedliche Prozesse als verkettete Ereignisfolgen in ihrer Verschränktheit zu analysieren, also herauszubekommen, wie sie verbunden sind, dabei immer davon ausgehend, dass einige dieser verschränkten Prozesse sehr viel länger dauern als andere (die biologischen Prozesse des menschlichen Lebens haben eine andere Temporalität als diejenigen von Familien oder Organisationen), einige weit in andere Ökologien hineinreichen etc. Er will die ontologischen Ebenen des Sozialen also nicht nur enthierarchisieren, sondern auflösen.
Wenn