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Die Historizität von Individuen
Wir sollten Individuen in der Geschichte wieder viel mehr zur Geltung bringen.1 Warum? Das möchte ich im Folgenden ausführen. Es geht mir dabei keinesfalls um die Rückkehr zur Geschichte der großen Männer, übrigens auch nicht zu einer der großen Frauen. Zwar kann die soziale Struktur einzelnen Individuen mitunter außergewöhnliche Macht verleihen, um die Zukunft zu gestalten, die entscheidende explanatorische Frage gilt aber nicht den Qualitäten oder den Taten jener Individuen, so spannend diese auch sein mögen. Erklärungsbedürftig sind vielmehr die Bedingungen, unter denen sich derartige soziale Strukturen herausbilden und festigen. Die eigentliche Frage ist beispielsweise nicht, warum sich Elizabeth Tudor gegen die Ehe entschied, sondern wie eine soziale Struktur zustande kam, in der ihre Weigerung, zu heiraten, so dauerhafte politische Folgen zeitigen konnte. So gesehen ist die Geschichte der großen Persönlichkeiten lediglich eine empirisch definierte Unterabteilung der Geschichte sozialer Strukturen im Allgemeinen. Sie handelt nicht wirklich von Individuen als Individuen oder auch nur von Individuen als einer Gruppe oder einem Typus, sondern von den Bedingungen, die besondere Individuen besonders wichtig machen. Ich möchte uns also auf keinen Fall eine Rückkehr zum Nachdenken über große Persönlichkeiten ans Herz legen.
Genauso wenig geht es mir darum, dass wir uns die »Lebenslaufperspektive« zu eigen machen, auch wenn einige meiner früheren Arbeiten über Karrieren dieser Perspektive zumindest in methodologischer Hinsicht ähneln. In den Lebenslaufansätzen suchen wir die Bedeutung von Ereignissen bekanntlich nicht, indem wir eine Anzahl von Fällen in den Blick nehmen, so wie wir das in der variablenbasierten Sozialwissenschaft tun. Wir schauen uns die Fälle vielmehr jeweils für sich an, um die Bedeutung dieses oder jenes Ereignisses in seinem Verhältnis zur Entfaltung der Erfahrung eines Individuums zu entdecken. Dabei macht es keinen Unterschied, ob wir einen narrativen Ansatz wählen und die »Geschichte« eines individuellen Lebens mit textuellen Methoden untersuchen oder ob wir uns für einen analytischen Ansatz entscheiden und mit Zeitreihenmethoden (oder einer Sequenzanalyse oder sonstigen formalen Mitteln) eine geordnete Sequenz der Werte einer Variablen über einen individuellen Lebensverlauf untersuchen. So oder so interessieren wir uns für die sequenzielle Entfaltung der Ergebnisse des Lebens einer Person.2
Die relativ starke Ausrichtung auf Ergebnisse schränkt den Lebenslaufansatz erheblich ein. Der soziale Prozess hat keine Ergebnisse. Er geht einfach immer weiter. Auch Individuen haben keine Ergebnisse, außer dem unabänderlichen, mit dem wir alle auf John Maynard Keynes’ lange Sicht rechnen müssen.3 So schafft die implizite analytische Ausrichtung der Lebenslaufstudien auf individuelle Ergebnisse gravierende Probleme, wie wir beobachten können, wenn wir uns den Begriff der Karriere anschauen – den zentralen Lebenslaufbegriff meines eigenen Sachgebiets, die Erforschung der Arbeit und der Berufe. In unserer Untersuchung beruflicher Werdegänge sehen wir das Individuum oft als eine Art letzte Tafel, auf der die Ergebnisse der sozialen Prozesse niedergeschrieben werden. Analytisch heißt das, dass die meisten Studien zu Karrieren eine Welt voraussetzen, in der große soziale Kräfte kleine Individuen herumschubsen, wobei sie fortlaufend Spuren in der Arbeitserfahrung der Individuen hinterlassen, die dann als das finale Explanandum begriffen wird. Wenn wir diese Voraussetzung in eine sachgerechtere Sprache übersetzen, könnten wir sagen, dass große exogene Veränderungen in Technologie, Arbeitsteilung, Märkten und rechtlichen Institutionen die fortlaufende Erfahrung arbeitender Individuen bestimmen, die somit in ihnen gefangen sind.
Aber die Individuen handeln natürlich, denn sie machen die Erfahrung der verschiedenen, eine Karriere konstituierenden Zwischenergebnisse, während ihre Karriere noch im Gange ist. Und diese Handlungen führen wiederum zu weiteren Ergebnissen dieser Erfahrungen. Ein Ausweg aus der impliziten analytischen Sackgasse der Lebenslaufanalyse besteht deshalb darin, dass wir uns auf diese weiteren Ergebnisse konzentrieren – die Interpretationen und Handlungen, die Arbeitnehmerinnen (üblicherweise kollektiv) auf die größeren sozialen Kräfte reagieren lassen, die sie unter Druck setzen. Es gibt natürlich einen Zweig der Forschungsliteratur, der genau das bereits macht: unsere traditionsreiche Untersuchung der sozialen Bewegungen, in deren Rahmen die Arbeitnehmer auf den Gestaltwandel des Kapitalismus reagieren. Diese Bewegungen sind genau jene sozialen Strukturen, die sich in der Arbeitnehmerschaft herausgebildet haben, um auf den individuellen Druck zu reagieren, der jede und jeder Einzelne von ihnen unterliegt – Druck durch die sozialen Strukturen der Kapitalisten, aber auch durch Aspekte der allgemeinen sozialen Struktur, die sich der Kontrolle der Kapitalisten entziehen – und die wir als das Zusammentreffen von Umständen bezeichnen können.
Wie die Forschung über die sozialen Bewegungen aber ignoriert auch die Forschungsliteratur zu Lebensläufen ein zentrales Faktum bezüglich der Individuen: die Historizität von Individuen, wie ich es nennen möchte. Ich behaupte, dass diese Historizität eine zentrale Kraft darstellt, die die meisten historischen Prozesse determiniert. Das heißt, ich werde zu zeigen versuchen, dass die schiere Masse an Erfahrung, die Individuen über die Zeit mit sich führen – und die wir uns im demografischen Sinn als gegenwärtigen Niederschlag der Erfahrung vergangener Kohorten vorstellen können –, eine immense soziale Kraft ist. Allzu leicht übersieht man diese gerne auch mal unsichtbare Kraft, eine Blindheit, der wir fast zwangsläufig zum Opfer fallen, wenn wir in historischen Perioden denken, was wir oft tun, sobald wir auf der Ebene von Gruppen arbeiten. Im Grunde verbietet die enorme Kontinuität von Individuen im Zeitfluss eine solche periodische Analyse, wie praktisch sie auch sein mag; die meisten Individuen, die in einer bestimmten Periode leben, lebten auch in der unmittelbar vorangegangenen. Kurzum, Individuen sind für die Geschichte von zentraler Bedeutung, weil sie der vorrangige Speicher historischer Verbindungen von der Vergangenheit zur Gegenwart sind. Das verstehe ich unter der Historizität von Individuen.
Ich möchte erst einmal noch etwas detaillierter ausführen, was ich unter Historizität verstehe. Zunächst einmal meine ich Kontinuität im Zeitablauf. Und ich behaupte, dass Individuen eine Kontinuität im Zeitverlauf in einem Maß besitzen, die sozialen Strukturen abgeht. Es muss uns klar sein, dass wir diese relative Dominanz der individuellen Kontinuität voraussetzen, wann immer wir die weit verbreitete Feststellung treffen, dass sich der soziale Wandel immer stärker beschleunigt. Diese Feststellung impliziert die Annahme, dass Individuen langlebiger sind als soziale Strukturen, denn nur dann müssen sie die Veränderungen Letzterer ertragen und können das Ausmaß von deren Wandlungsfähigkeit überhaupt wahrnehmen. In einer Welt, der man einen immer rascheren sozialen Wandel bescheinigen kann, muss die historische Kontinuität von Individuen jene Sehne bilden, die Vergangenheit und Gegenwart verbindet. Es ist die Historizität von Individuen, die es uns ermöglicht – ja, die uns dazu zwingt –, vom sozialen Wandel zu wissen.
Nun impliziert die Überzeugung, dass sich der soziale Wandel immer mehr beschleunigt, auch die Auffassung, dass das Ungleichgewicht zwischen der Kontinuität des Individuums und jener der Sozialstruktur einmal geringer war als heute. Auch wenn manch einer es womöglich für axiomatisch halten mag, dass Individuen über größere zeitliche Kontinuität verfügen als soziale Strukturen, ist das tatsächliche Verhältnis zwischen individueller und sozialstruktureller Kontinuität wahrscheinlich eine empirische Frage, die zeitlich und