»Haltet meine Beine fest!«, befahl Helene.
Rita und Konstanze packten zu und ließen sie in die Tiefe hinab. Helene hing kopfüber neben dem rauen Körper des Monsters. Die Abmessungen des Gewächses waren gewaltig: Fünf ausgewachsene Männer hätten problemlos darin Platz gefunden. Nun beherbergte es neben all seinen kleinen und großen Dornenranken auch Moritz. Hätte sich die Mimose jetzt schlagartig ausgedehnt, hätte sie Rita, Konstanze und sie selbst mühelos zerquetscht. Es gab wenige Gedanken, die Helene in ihrem untoten Zustand zu einer menschlichen Regung veranlassten, aber die Vorstellung, von einer riesenhaften Pflanze zerschmettert zu werden, gehörte mit Sicherheit dazu.
Am unteren Ende des Geflechtes, der Wurzel, gab es keine Dornen. Nicht ohne eine gewisse Faszination streckte Helene die Hand aus und berührte die Pflanzenhaut. Die Mimose ächzte und knarzte wie ein Baum im Feuer, doch Helene spürte nichts. Ihre untote Hand übertrug zwar die Vibration auf ihren Arm, doch sie empfand weder Kälte noch Wärme. Aber was hatte sie erwartet? Dass die Berührung ihr plötzlich die ganze Welt der Gefühle eröffnen würde? Dass sie das Zittern eines anderen Körpers wahrhaft spüren könnte? Lächerlich.
Ein weiterer, gedämpfter Schrei riss sie aus ihren Gedanken. Moritz’ Stimme, wie unter dicken Ballen aus Stoff begraben. Versteckt im Wehklagen der Mimose.
Helene sah nach oben. »Reichen Sie mir bitte die Armbrust, Frau Rita.«
Moritz blinzelte gegen die Dunkelheit und den Schmerz an. Er tastete sich im Trüben voran und hoffte auf etwas zu stoßen, das ihm half, sich zu orientieren. Der Kopf mit dem Horn musste direkt vor ihm sein. Doch je mehr er vorankam, desto mehr Schlingen wickelten sich um seinen Körper. Mehrmals versuchte er, mit dem Schwert die Ranken zu durchstoßen, damit Licht ins Dunkel fiele, aber das führte nur dazu, dass ihn Fangarme packten und er unabsichtlich die Knöpfe des Teleskopstabs drückte.
KLICK! KLICK! KLICK!
Die Tentakel um sein Handgelenk zogen sich weiter zu, bohrten ihre Stacheln in sein Fleisch, bis sich seine Hand öffnete und ihm die Waffe entglitt.
»Nein! NEIN!«
Eine Ranke legte sich um seinen Hals. Langsam und bedächtig. Sie wickelte sich um seine Kehle und fuhr ihre Dornen aus. Nur ein Ruck genügte und es würde vorbei sein.
BLAMM!
Ein kühler Windhauch strömte ihm entgegen.
BLAMM-BLAMM!
Die Kälte nahm zu. Etwas splitterte. Ein dünner Lichtstrahl erhellte die Finsternis. Moritz blinzelte. Seine Augen tränten, aber er konnte Schemen und Umrisse erkennen. Urplötzlich war da eine Hand. Sie bahnte sich ihren Weg hinein ins Innere des Kokons und verschwand dann wieder.
BLAMM!
Frische Luft, wie eisiger Atem, blies im entgegen und kühlte sein Gesicht. Die Hand tauchte erneut auf und brach die vereisten Stücke der Ranken auseinander. Das Loch wurde größer und die Lichtstrahlen erhellten mehr und mehr von seinem Gefängnis.
Moritz riss die Augen auf, so weit er konnte. Er entdeckte sein Messingschwert, es klemmte zwischen einigen Dornen fest. Doch selbst als er sein Gewicht verlagerte, sich streckte und danach langte, reichte er nicht heran. Er ergriff die erstbeste Ranke, um sich in Richtung des Schwertes zu ziehen. Die Schlinge um den Hals zog sich enger. Er japste und schnappte nach Luft. Wilde Punkte tanzten vor seinen Augen und Schwärze kroch auf ihn zu. Ein drohender Schatten vernebelte seine Sinne. Seine ausgestreckte Hand tastete ein Stück weiter, stieß auf Metall, schloss die Hand und bediente einen der Knöpfe. KLICK! Der Teleskopstab verlängerte sich und durchstieß die Ranken vor und hinter ihm. Licht flutete durch die Löcher. KLICK! Mit einem weiteren Knopfdruck verwandelte sich der Stab zurück in ein Schwert. Moritz keuchte. Langsam wurden die Punkte vor seinen Augen träge. Etwas Heißes umspülte seinen Kopf. Es fühlte sich an wie schlimmstes Fieber. Sein Schädel stand in Flammen. War das der Tod?
Auf einmal hörte er eine Stimme. Es war Helene, die aus einem langen Tunnel zu ihm herüberrief: »Moritz … pass auf … ich schieße.«
Er schloss die Augen. Ein frostiger Blitz raste auf ihn zu. Zuerst dachte er, Helene hätte auf ihn geschossen, doch schlagartig lockerte sich die Schlinge um seinen Hals. Etwas knirschte und brach, dann rutschten ihm Eissplitter über Nacken und Rücken. Das tat so unendlich gut.
Moritz konnte wieder atmen, auch wenn seine Brust und seine Beine weiterhin von den Ranken umschlugen wurden. Er schnaufte zwei, drei Mal und bewegte vorsichtig den Kopf. Sein Genick war nicht gebrochen. Er sah das Schwert in seiner Hand, spürte, wie Luft seine Lungen füllte. Da war der Kopf der Mimose – sie schrie und klagte in einem Gewirr aus Armen. Der Kopf zog sich zurück, versuchte in der Tiefe zu verschwinden. Ranken schoben sich schützend davor. Moritz schnitt sie mit einem kräftigen Hieb durch. Die Bestie quiekte und schrie. Ihre kleinen, schrumpeligen Äuglein glänzten im Zwielicht wie dunkle Perlen. Das Horn war in Reichweite, es stach ihm entgegen. Das Maul klappte auf und zu, kläglich und hilflos.
Moritz schluckte. Da war etwas im Blick der Kreatur, das ihn zögern ließ. Ihr borkengleiches Antlitz sah gequält aus. Da waren Risse, feine rote Linien, die ihr Gesicht verunstalteten. Als ob sie sich selbst verletzt hätte. Moritz entdeckte seltsame Pusteln und Narben überall, sogar an den Ranken. Sie schimmerten violett und erinnerten an Blutergüsse. Was hatte das zu bedeuten?
Die Mimose knurrte und schrie, dann ruckte sie herum und öffnete erneut ihr Maul. Eine dunkle Zunge war zu sehen, ebenfalls mit violetten Pusteln. War das eine Krankheit? Bevor Moritz einen weiteren Gedanken fassen konnte, bäumte sich das Wesen auf. Der kleine Kopf wuchs in die Höhe und spie giftigen Atem aus. Moritz’ Arm zuckte nach vorn und das Schwert trennte das Horn mit einem sauberen Schnitt vom Kopf ab.
Das Wesen erstarrte. Der eingedrehte Kokon aus Ranken hielt inne und vertrocknete in rasender Geschwindigkeit. Ein bedrohliches Knacken war zu hören, bevor die Kreatur zu modrigem Staub zerfiel.
Eine giftige Wolke wirbelte empor, als Moritz inmitten der in sich zusammenfallenden Bestie unter dem Wirtshaus im Schutt aufschlug.
Moritz erwachte mit einem Japsen, das einem Ertrinkenden zur Ehre gereicht hätte. Ein kühles Tuch bedeckte seine Lider und hüllte die Welt in milchiges Licht.
Als er den Lappen von den Augen zog, starrte ihn jemand mit triefenden Schielaugen an. Ein Mann mit fettigen Haaren und schiefem Gesicht. Der Fremde musterte Moritz, pustete ihm seinen käsigen Atem ins Gesicht und wandte sich dann nuschelnd ab.
Sofort kam eine große Frau herbei und sah ihn von oben herab an. Moritz kannte diesen Ausdruck. Er erinnerte ihn an den seiner Mutter. Sie hatte ihn immer aufgesetzt, wenn er tief in der Patsche saß. Frauen mit Autorität. »Du lebst«, sagte sie. »Erstaunlich.«
Moritz’ Kopf hämmerte und seine Augen schmerzten. Er saß auf dem Boden, sein Oberkörper wurde von einer zerschmetterten Tischplatte gestützt. Etliche Lagen feuchtwarmer Tücher waren um seinen Körper gewickelt. Sie umschlangen den Hals, die Hände und Beine.
Im Raum herrschte ein einziges Chaos. Nur ein paar zerbrochene Krüge und Fässer verrieten, dass dies einmal der Schankraum eines Wirtshauses gewesen war.
»Sind alle unverletzt?«, krächzte er und versuchte sich aufzusetzen.
»Glücklicherweise«, sagte eine Stimme mit österreichischem Akzent. Sie gehörte einem jüngeren Mann, der neben Rita einen Schritt vortrat. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht.« Der Fremde kam dicht an ihn heran und kniete nieder. Er setzte einen Zwicker auf und untersuchte Moritz’ Augen. »Ich bin Dr. Julius Mehltau. Wie viele Finger siehst du?«
Moritz zögerte. »Drei.«
»Es sind vier«, schmunzelte der Doktor. »Hast du Kopfschmerzen?«