»Mr. Lyne«, sagte er ein wenig sarkastisch. »Sie geben selbst den Verbrechern ein übles Beispiel. Es ist gut, daß Ihr verbrecherischer Freund noch im Gefängnis sitzt!« Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer.
Kapitel 3
Zwei Tage später saß Thornton Lyne in seinem großen Auto, das an der Seite des Fußgängersteiges in der Nähe von Wandsworth-Common hielt, und schaute nach dem Tor des Gefängnisses.
Er war Dichter und Schauspieler, eine merkwürdige Mischung für einen Geschäftsmann seines Charakters.
Thornton Lyne war Junggeselle. Er hatte ein Examen auf der Universität gemacht und einen großen wissenschaftlichen Preis erhalten. Er war auch Autor und Herausgeber eines dünnen Gedichtbandes. Die Güte seiner Verse war gerade nicht bedeutend, aber das Buch war zweifellos mit wunderbar schönen Initialen gedruckt und in altertümlicher Art gebunden. Er war Kaufmann, und das war ihm in mancher Beziehung nicht unangenehm. Denn sein Beruf erlaubte ihm, ein luxuriöses Leben zu führen. Er besaß mehrere Autos, einen Landsitz und ein Haus in der Stadt. Die Möblierung und Ausstattung der beiden Wohnungen hatten Summen verschlungen, mit denen er eine große Anzahl kleiner Geschäfte hätte kaufen können.
Joseph Emanuel Lyne hatte die Firma gegründet und das Geschäft in die Höhe gebracht. Er hatte ein Verkaufssystem ausgearbeitet, nach dem jeder Kunde sofort bedient wurde, wenn er den Laden betrat. Diese Methode beruhte auf dem alten Grundsatz, stets genügende Reserven in Bereitschaft zu halten.
Thornton Lyne erhielt die Führung des Geschäftes in dem Augenblick, in dem das Erscheinen seines schmalen Bandes ihn in die Reihe der berühmten Unverstandenen erhob. Bei seinen Gedichten verwendete er eine ungewöhnliche Interpunktion, umgekehrte Kommata, Ausrufungszeichen und Fragezeichen, um seinen Zorn und seine Verachtung gegenüber der Menschheit auszudrücken. Wenngleich der Band auch nur dünn war, gekauft wurde er doch nicht, aber er verschaffte ihm genügend Ansehen bei den Männern und Frauen, die wie er Gedichte und Bücher schrieben, die nicht gelesen wurden.
Nichts in der Welt war diesem berühmten unverstandenen Menschen sicherer, als daß sich höchste Vornehmheit in Verachtung äußerte. Unter anderen Umständen hätte sich Thornton Lyne noch zu weiteren Stufen des Unverstandenseins hinaufarbeiten können - auf eine solche Höhe, wo man erhaben ist über Ehe, Seife, reine Hemden und frische Luft. Nur die Tatsache, daß sein Vater plötzlich starb, war daran schuld, daß er diesen Grad der Vollkommenheit nicht erreichte.
Zuerst hätte er beinahe die ganze Firma verkauft, um sich in eine einsame Villa nach Florenz oder Capri zurückzuziehen. Aber dann lockte ihn das Widerspruchsvolle, ja man möchte sagen, der Humor seiner Lage. Ein gelehrter Mann, ein vornehmer Herr, ein mißverstandener Dichter sollte sich in ein Kaufmannsbüro setzen. Und zum Erstaunen aller Leute nahm er die Arbeit seines Vaters auf, das heißt, er unterschrieb Schecks und profitierte von den Einnahmen. Die eigentliche Leitung der Firma überließ er den Männern, denen der alte Lyne schon vertraut hatte.
Thornton verfaßte einen Aufruf an seine dreitausend Angestellten, den er auf antikem Büttenpapier mit wunderschönen Initialen und breiten Rändern drucken ließ. Er zitierte Seneca, Aristoteles, Marc Aurel und fügte auch einige Verse aus der Ilias ein. Dieser Aufruf wurde durch längere und bessere Kritiken von den Zeitungen begutachtet als sein Buch.
Er hatte nun ein neues Interesse am Leben gewonnen er kam sich selbst sehr interessant vor, denn seine vielen begeisterten Freunde schlugen die Hände über dem Kopf zusammen und fragten erstaunt und verwundert: »Wie können Sie - ein Mann von solcher Begabung, von solchem Charakter . . .!« Das Leben wäre auch weiter für ihn so interessant und schön geblieben, wenn alle Leute, die ihm begegneten, ihn in seiner Gottähnlichkeit gelassen hätten. Aber es gab zum mindesten zwei Menschen, auf die Lynes schöner Charakter und seine Millionen nicht den geringsten Eindruck machten.
In seiner Limousine war es schön warm, denn sie war elektrisch geheizt. Es war ein rauher Aprilmorgen, und draußen war es empfindlich kalt. Die kleine Schar zitternder Frauen, die in einer respektvollen Entfernung vor der Gefängnistür standen, zogen ihre Tücher und Schals dichter um sich, weil einzelne Schneeflocken niederfielen. Bald war die ganze Gegend von einer leichten weißen Decke überzogen, und die ersten Frühlingsblumen schauten in ihrer weißen Umrahmung recht kläglich aus.
Die Gefängnisuhr schlug acht. Eine kleine Tür öffnete sich, und ein Mann trat heraus. Er hatte Jacke und Kragen zugeknöpft und die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Lyne ließ die Zeitung sinken, in der er bis jetzt gelesen hatte, öffnete die Wagentür, sprang hinaus und eilte direkt auf den entlassenen Gefangenen zu.
»Nun, Sam«, sagte er liebenswürdig. »Sie haben mich diesmal wohl nicht erwartet?«
Der Mann stand plötzlich still, als ob er vom Blitz getroffen sei, und starrte auf die Gestalt in dem kostbaren Pelz.
»Ach, Mr. Lyne«, erwiderte er mit gebrochener Stimme. »Sie sind es!« Er konnte nicht weitersprechen, die Tränen liefen ihm über die Backen, und er ergriff die ausgestreckte Hand mit seinen beiden Händen.
»Sie haben doch nicht etwa gedacht, daß ich Sie im Stich lasse, Sam!« Lyne war ganz begeistert von seiner eigenen vornehmen Gesinnung.
»Ich dachte, Sie hätten mich jetzt aufgegeben, Mr. Lyne«, entgegnete Sam Stay heiser. »Sie sind wirklich ein edler Herr und haben einen anständigen Charakter. Ich muß mich vor mir selber schämen!«
»Unsinn, Sam, nicht doch! Kommen Sie schnell in meinen Wagen, mein Junge, setzen Sie sich hierher. Jetzt denken die Leute, Sie sind ein Millionär.«
Der Mann schluckte, grinste verständnislos und stieg ein. Mit einem Seufzer sank er in die weichen Polster, die mit kostbarem, braunem Saffianleder bezogen waren.
»Mein Gott, wenn man denkt, daß es Leute wie Sie in der Welt gibt, dann kann man wirklich noch an Engel und Wunder glauben!«
»Reden Sie doch nicht so dummes Zeug, Sam. Sie kommen jetzt zu mir in meine Wohnung, essen sich einmal tüchtig satt, und dann werde ich Ihnen helfen, wieder etwas Neues anzufangen.«
»Ich will jetzt auch wirklich ein ordentliches Leben führen«, sagte Sam mit einem unterdrückten Schluchzen.
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß gesagt werden, daß sich Mr. Lyne im Grunde sehr wenig darum kümmerte, ob Sam einen ordentlichen Lebenswandel führte oder nicht. Vielleicht wäre er sogar entsetzt gewesen, wenn Sam ein ordentlicher Mensch geworden wäre. Er hielt sich Sam ungefähr so, wie andere Leute sich seltenes Geflügel oder schöne Hunde halten, und war auf ihn nicht weniger stolz als andere Menschen auf ihre Briefmarken oder ihr chinesisches Porzellan. Sam gehörte zu dem Luxus, den er sich gestatten und mit dem er renommieren konnte. In seinem Klub erzählte er gern von seiner Bekanntschaft mit diesem Verbrecher -Sam war ein bekannter und berüchtigter Geldschrankknacker. Seine Anhänglichkeit war ein ungewöhnlicher Nervenkitzel für Lyne.
Die Verehrung, die dieser Verbrecher Lyne entgegen brachte, war wirklich ungewöhnlich. Sam hätte ohne zu zögern sein Leben für diesen Mann mit dem blassen Gesicht und dem leichtfertigen Mund gegeben. Er hätte sich für seinen Wohltäter in Stücke reißen lassen, wenn er ihm dadurch irgendwie hätte nützen können, denn für ihn war Lyne ein vom Himmel herabgestiegener Gott. Zweimal war Sam zu kurzen Gefängnisstrafen verurteilt worden, und einmal hatte er auch länger gesessen, und jedesmal hatte Thornton ihn mit nach Hause genommen, großartig bewirtet und ihm eine Menge sehr überflüssige Ratschläge gegeben; dann hatte er ihn mit einem Anfangsgehalt von zehn Pfund wieder auf die Mitwelt losgelassen. Diese Summe genügte Sam gerade, um einen neuen Satz von Einbrecherwerkzeugen zu kaufen.
Aber nie zuvor hatte Sam solche Dankbarkeit gezeigt, und nie vorher hatte Thornton Lyne sich so um ihn bemüht. Zunächst war ein heißes Bad vorgesehen, dann folgte ein warmes, luxuriöses Frühstück. Sam erhielt einen neuen Anzug, und in seiner Brusttasche steckten diesmal nicht nur zwei, sondern vier Fünfpfundnoten.
Nach