I. Arbeitsrecht und Wirtschaftsdemokratie – reformistische Politik in der Weimarer Republik
Eine exponierte Karriere war Franz Neumann nicht in die Wiege gelegt und zeichnete sich doch bald ab: Im Jahr 1900 im schlesischen Kattowitz geboren und in einer jüdischen Handwerkerfamilie aufgewachsen, entfernte er sich rasch von seinem Herkunftsmilieu und nahm mit 18 Jahren das Studium der Jurisprudenz auf, zuerst in Breslau und dann in Leipzig. Im Revolutionswinter beteiligte er sich dort am Barrikadenkampf der revolutionären Soldaten und Arbeiter, schlug sich dann aber nicht auf die Seite der Rätedemokratie, sondern sah seine politische Zukunft bei der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften. Damit wurde auch die berufliche Ausrichtung seines juristischen Studiums erkennbar, das er in Rostock fortsetzte und 1923 in Frankfurt am Main mit einer Promotion abschloss.4
Die Schnelligkeit, mit der Franz Neumann sich in der keineswegs schon gefestigten Berufswelt nach dem Ersten Weltkrieg zurechtfand, mag mit seinem Aufstiegswillen zu tun gehabt haben, erstaunlich bleibt die Zielsicherheit, die einen jungen Mann aus der östlichen Provinz genau dort andocken ließ, wo eines der interessantesten Reformprojekte der Weimarer Republik Gestalt annahm: die Entwicklung eines modernen Arbeitsrechts und dessen Ausgestaltung zur Wirtschaftsdemokratie. Noch während er seine Referendarzeit absolvierte, wurde Neumann Assistent bei Hugo Sinzheimer, der bereits 1919 im Verfassungsausschuss bei der Neuregelung der Arbeitsverhältnisse Pate gestanden hatte und jetzt an der Frankfurter Universität Arbeitsrecht lehrte. Hier und in der benachbarten „Akademie der Arbeit“ tat sich ein Wirkungsfeld auf, das gleichzeitig eine politische Gesinnungsgemeinschaft und ein höchst produktiver Arbeitszusammenhang war, aus dem später so kantige Männer hervorgingen wie Ernst Fraenkel und Otto Kahn-Freund.
In diesem Kreis erwies sich Franz Neumann rasch als einer der kreativsten und wendigsten Köpfe. Hat man Hugo Sinzheimer als den „Vater des Weimarer Arbeitsrechts“ bezeichnet, so erwies sich sein Schüler als der Jungpionier, der dieses juristische Fachgebiet nicht nur verfassungsrechtlich und rechtsdogmatisch präzisierte, sondern auch auf neue Detailfragen wie das Arbeitsvertrags- und Tarifrecht, die Stellung der Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgebern, die Kartell- und Monopolkontrolle und die normsetzende Rolle der Rechtsprechung ausdehnte. Maßgeblich für Neumanns frühe Sichtbarkeit war nicht zuletzt, dass seine Tätigkeit zu gleichen Stücken praktisch ambitioniert und theoretisch munitioniert war: Seit Mitte der 20er Jahre ist Neumann in den einschlägigen Fachzeitschriften präsent, im Jahr 1928 wird er Syndikus der Bauarbeitergewerkschaft in Berlin und eröffnet ein Anwaltsbüro zusammen mit Ernst Fraenkel, der seinerseits die Rechtsvertretung der Metallarbeitergewerkschaft übernimmt.
Vielleicht versteht man das enorme Selbstbewusstsein und den Zukunftselan dieser beiden Männer am besten, wenn man sich vorstellt, wie sie ab 1930 am Halleschen Ufer im hochmodernen Gewerkschaftshaus „residierten“, das der Bauhausarchitekt Erich Mendelsohn entworfen hatte. Von hier aus führte Neumann etliche Schlüsselprozesse bis hinauf zum 1927 eingerichteten Reichsarbeitsgericht in Leipzig, beteiligte sich also, immer an der Seite der Gewerkschaften, an der Rechtsfindung durch die Justiz oder formulierte sogar Vorlagen für Gesetzentwürfe. Gleichzeitig legte er eine geradezu explodierende Publikationstätigkeit an den Tag, die sich jetzt von den Spezialthemen löste und sowohl juristisch wie politisch ins Allgemeinere ausgriff: „Die politische und soziale Bedeutung der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung“ (1929); „Die soziale Bedeutung der Grundrechte in der Weimarer Verfassung“ (1930); „Über die Voraussetzungen und den Rechtsbegriff einer Wirtschaftsverfassung“ (1931); „Koalitionsfreiheit und Reichsverfassung“ (1932) – so lauteten jetzt die Titel seiner Aufsätze und Broschüren, von denen die letztere Buchlänge hatte und u.a. im Seminar von Carl Schmitt diskutiert worden war.5
Die Öffnung des juristischen Diskurses hin zu Fragen der Sozialpolitik war natürlich keine Erfindung von Neumann und seinen Mitstreitern, sondern dem Arbeitsrecht von Anfang an inhärent. Wie Hugo Sinzheimer, der sich seinerseits auf die Studien des Österreichers Karl Renner berief, schon vor 1918 gefordert hatte, war die rechtliche Regulierung der Lohnarbeit ein zentrales Ziel der politischen Arbeiterbewegung gewesen und damit ein langfristiges Projekt, das der marxistischen Kritik am Kapitalismus entsprang und untrennbar mit dem Fernziel einer sozialistischen Gesellschaft verbunden war.6 Neu und vielversprechend war aber die Konstellation, die sich durch die vergleichsweise starke Stellung von Sozialdemokratie und Gewerkschaften ergeben hatte: Sie hatten, gestärkt auch durch die Niederschlagung der Novemberrevolution, bei der Aushandlung der Weimarer Verfassung weitreichende politische und soziale Grundrechte durchsetzen können.
Wenn man den Weimarer Reformismus insgesamt durch seine legalistische Strategie charakterisieren kann, d.h. durch den Glauben, dass die Rechtsform das geeignete Instrument zur Herbeiführung des Sozialismus sei, so steckte darin nichts weniger als eine geschichtsphilosophische Heilserwartung. Es ist von einiger Bedeutung, sowohl den Voraussetzungen wie den Folgen dieser Utopie im zeitgeschichtlichen Horizont nachzuspüren. Der Weimarer Reformismus setzte primär – und unterschied sich genau damit von der „permanenten Revolution“ der Kommunisten (Trotzki) – auf den progressiven Ausbau des Rechtsstaates, er sah in der Rechtsform die historische „Dialektik von politischer und sozialer Demokratie“ in Gang gesetzt und brach damit der marxistischen Geschichtsauffassung, die nach wie vor die Leitideologie auch der Sozialdemokratie war, gleichsam die Spitze ab. Sie war reformorientiert, blieb aber eben auch in den „historischen Block“ der bürgerlichen Klassengesellschaft eingebunden, wie Antonio Gramsci es genannt hat.
Neumanns wissenschaftliche und politische Anfänge in der Weimarer Republik passten sich in diese Konstellation ein, wobei man jedoch den ebenfalls von Gramsci geprägten Begriff des „organischen Intellektuellen“ nicht umstandslos auf ihn anwenden sollte: Der Aufbau des Arbeitsrechts ebenso wie die Idee der gewerkschaftsgebundenen Wirtschaftsdemokratie entsprachen sicherlich eher den zentristischen, wenn nicht den konservativen Kräften innerhalb der Arbeiterbewegung7, doch stechen an Neumanns Beiträgen zu diesen Politikfeldern, die gewiss gesellschaftspolitisch hochsignifikant waren, vor allem zwei Eigenschaften hervor: Sie enthalten sich großenteils der ideologischen Begründung aus dem Fundus der marxistischen Weltanschauung, und sie sind dementsprechend über weite Strecken rein technisch-juristisch gehalten, was als ihre Stärke gemeint war, aber sich bald als Schwäche erweisen sollte.
So ist z.B. Neumanns Situationsanalyse im Krisenjahr 1929 immer noch in die nüchterne Formel gepackt, es sei „die rechtliche Formulierung für eine Situation zu finden, die nicht mehr rein kapitalistisch, aber auch nicht sozialistisch ist“.8 In diesem Zwischenreich, das mehr ein logischer Ermöglichungsraum als ein realpolitischer Handlungsraum war, sah er die Hoffnungen angesiedelt, die sich mit der Institutionalisierung und der rechtlichen Ausgestaltung der Wirtschaftsdemokratie verbanden. Als seine Grundpfeiler sollten die freien Gewerkschaften auf der einen Seite, die großen Wirtschaftsverbände auf der anderen Seite fungieren, die paritätisch, aber unter strenger Aufsicht des Staates die sozialen Machtverhältnisse zugunsten der Arbeiterschaft umgestalten sollten. Mehr oder weniger ausgespart war dabei, wie sehr die tatsächlichen Wirtschaftsstrukturen längst in Richtung auf Monopol- und Kartellbildung verändert, wie schwach also die Arbeiterorganisationen bereits waren, bevor sie von den dramatischen Turbulenzen der Weltwirtschaftskrise erfasst wurden. Es war bekanntlich die Unlösbarkeit der wirtschaftspolitischen Konflikte, die den schon vorher bemerkbaren republikfeindlichen Tendenzen Oberwasser verschafften und ihnen dann ab 1930 zum Durchbruch im Staatsapparat selber verhalfen.
Man kann die politische Arglosigkeit, wenn nicht die Selbsttäuschung der Reformstrategen am Ende der Weimarer Republik recht gut durch eine Anekdote erläutern. Franz Neumann hatte 1930 auf die pessimistische Krisendiagnose der Weimarer Verfassung, die sein jungsozialistischer „Genosse“ Otto Kirchheimer vorgelegt hatte, negativ reagiert: Vordringlich sei nicht die marxistische Kritik des gegebenen Staates, vielmehr sei es „die zentrale Aufgabe der sozialistischen Staatstheorie, den positiven sozialen Gehalt des zweiten Teils der Weimarer Verfassung zu entwickeln und konkret darzustellen … Wenn Kirchheimer in seiner Überschrift, die sehr