Michael Wildt Franz Neumann und die NS-Forschung
Vorbemerkung der Herausgeber
Franz L. Neumanns „Behemoth“ gilt heute als ein „moderner Klassiker“ der Sozialwissenschaft und ist gleichwohl für die Öffentlichkeit ein Geheimtipp aus der Geschichte der Hitler-Flüchtlinge geblieben. Die hier vorgelegte Neuausgabe folgt der deutschen Erstausgabe aus dem Jahr 1977, erschienen in der Europäischen Verlagsanstalt, auf der auch die mittlerweile vergriffene Edition in der Schwarzen Reihe des S. Fischer-Verlages beruhte, die seit 1984 in mehreren Auflagen nachgedruckt wurde. Die späte Übersetzung aus dem Englischen, die erst auf das energische Betreiben Herbert Marcuses zustande kam, hatten Gert Schäfer und Hedda Wagner besorgt, sie benutzten den 1963 bei Octagon Books, New York erschienenen Neudruck als Grundlage, der seinerseits auf die erste und (für den ausführlichen Anhang) auf die zweite Auflage bei der Oxford University Press aus dem Jahr 1942 bzw. 1944 zurückging. Diese schwierige Publikationsgeschichte und die stark verzögerte Ankunft des Buches im Nachkriegs-Deutschland lassen bereits erkennen, welch immense Aufgabe bei der deutschen Erstausgabe zu bewältigen war.
Dass die äußerst verdienstvolle Übersetzung von Gert Schäfer und Hedda Wagner über 40 Jahre hinweg ohne jeden Tadel Bestand hatte, gibt uns die Möglichkeit, den Text der Fischer-Ausgabe bruchlos zu übernehmen. Übernommen wird auch das dort hinzugefügte ausführliche Register, ergänzt lediglich um Namen aus den vorliegenden Vor- bzw. Nachworten der Herausgeber. Dass wir jedoch das materialreiche und mit überlangen Anmerkungen gespickte Nachwort von 1977 nicht übernehmen, bedarf einer kurzen Begründung: Schäfers Text lebt von der Erfahrung der Wiederentdeckung eines lange vergessenen „Urtextes“ aus dem Exil, und er garniert diese Freude nicht nur mit der Hervorhebung der marxistischen Aspekte von Neumanns NS-Analyse, sondern fundiert diese auch durch den kritischen Vergleich mit der westdeutschen NS-Forschung, die bekanntlich in den ersten Nachkriegsjahrzehnten nur schleppend in Gang kam. Diese Konstellation war typisch für die Nachwirkung der sog. Studentenbewegung und ist heute selber Geschichte geworden.
Das bedeutet nicht, dass der „Behemoth“ mit seiner strukturalistischen Konzeption und seiner klaren politischen Zielsetzung an wissenschaftlicher Anregungskraft verloren hat. Die Herausgeber sind im Gegenteil davon überzeugt, dass es gerade die gegenwärtig zu beobachtende Wiederkehr nationalistischer Gefühle ist, gegen die Neumanns subtile Analyse und vor allem ihr weiter internationaler Horizont in Stellung zu bringen sind. Dementsprechend erfolgt die unerlässliche Kontextualisierung eines immerhin 75 Jahre alten Buches arbeitsteilig: Den Vorspann der Neuedition bildet eine biographische Skizze, die Neumanns politisch-intellektuelle Entwicklung hin zu einem epochentypischen Gelehrten, als Genese des „political scholar“ schildert. Während hier der „Behemoth“ als Markstein der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erscheint, konzentriert sich der Nachspann auf seine Bedeutung für bzw. seine Vernachlässigung durch die historische NS- und Holocaust-Forschung, für die Neumanns Studie nach wie vor beachtenswerte Perspektiven in sich birgt. Bei der Neulektüre des „Behemoth“ stellt sich heraus, dass in der Ahnung des destruktivsten Kerns des Nationalsozialismus das eigentliche Geheimnis des Buches zu suchen ist.
Für die Realisierung der Neuedition möchten wir danken: Herrn Christian Wöhrl für sein gründliches Lektorat, Frau Mareike Fricke für die zuverlässige Kommunikation und, ganz besonders herzlich, Frau Irmela Rütters für die Idee zu dem Projekt und seine geduldige verlegerische Betreuung.
Alfons Söllner / Michael Wildt
Februar 2018
Alfons Söllner
Vom Reformismus zur Resignation?
Franz L. Neumann als „political scholar“
Im Frühjahr 1952 veranstaltete die University of Pennsylvania in Philadelphia, also abseits von den akademischen Zentren der USA, eine Vorlesungsreihe, aus der weit mehr hervorging als ein zufälliges Gelegenheitsprodukt aus der Nachgeschichte des Exils. Zusammen mit anderen „big shots“ der Emigration, wie Erwin Panofsky und Paul Tillich, lieferte der amerikanische Politikwissenschaftler Franz L. Neumann, der den trockenen Gestus des deutschen Juristen nie ganz abgelegt hatte, ein wahres Feuerwerk von historischen, soziologischen und kulturtheoretischen Einfällen, die ganz unvermutet zu einem existentiellen Bekenntnis zusammenschossen.1 Was gleichzeitig eine wissenschaftsgeschichtliche Standortbestimmung und eine politische Selbstreflexion war, wurde dadurch so beredt, dass Neumann seine eigene Lebensgeschichte als Anschauungsbeispiel verwendete, um einen ganz bestimmten Typus von Wissenschaftler zu charakterisieren.
Neumann nennt diesen Typus den „political scholar“ und erläutert seine Gestalt zunächst an einer historischen Skizze des politischen Exils von Ovid über Dante und Marsilius von Padua bis zu Spinoza und Karl Marx, um dann auf seinen eigenen akademischen Werdegang zu sprechen zu kommen. Er erinnert sich, wie er als Student der Rechtswissenschaft die Erfahrung machen musste, dass die in der Tradition Humboldts stehenden deutschen Professoren mehrheitlich politisch „reaktionär“ und antisemitisch waren, somit aktiv an der Zerstörung der ersten deutschen Demokratie beteiligt. Dieses Erlebnis hatte ihn während des Regimewechsels vom Kaiserreich zur Weimarer Republik sozusagen „politisch erweckt“. Dennoch blieb er während des Studiums primär den deutschen Traditionen des Idealismus und Historismus ausgesetzt und war somit auf eine Mischung aus Theoriegläubigkeit und historischem Relativismus fixiert, die auch der Reformismus der Arbeiterbewegung bei aller Orientierung am Marxismus nicht überwinden konnte. Diese Haltung kam erst in die Krise, als die deutschen Emigranten sich in das ganz andere amerikanische Wissenschaftssystem einpassen mussten.
Um mit dem bedrängenden Kulturschock fertig zu werden, boten sich drei prinzipielle Möglichkeiten an, die Neumann typologisch ausbuchstabiert2: Der emigrierte Wissenschaftler kann sich der neuen Welt entweder umstandslos anpassen und seine Herkunftswelt verleugnen; oder er kann an seiner Herkunft starr festhalten und sich der neuen Welt verweigern; am produktivsten aber findet Neumann eine dritte Haltung, die er deswegen auch normativ auszeichnet: Sie besteht im Versuch der Synthese zwischen der alten und der neuen Welt, die freilich auch eine besondere Herausforderung bleibt. Dieser Wissenschaftler, wie ihn Neumann fordert, kann sich weder aus der Theorie noch aus der Politik davonstehlen, er darf weder von der Realität der Macht noch von der Macht der Ideen absehen, er wird den Dämon, von dem Max Weber die Politik beherrscht sah, in seine Seele einlassen, um ihn mit den Mitteln der Wahrheit zu besiegen.
Das aber birgt ein hohes Risiko: Weil der „political scholar“ vom theoretischen Denken ebenso wenig lassen kann wie vom politischen Handeln, ist seine Existenz bis ins Innerste geprägt durch den Konflikt mit den Herrschenden der jeweiligen Gesellschaftsordnung. Sein Lebensnerv ebenso wie seine soziale Funktion besteht in der Kritik der bestehenden Verhältnisse, und das kann im Zeitalter der totalitären Diktaturen auf seine Verfolgung, im Extremfall auf die physische Auslöschung hinauslaufen. Und auch wenn die aktuelle Erfahrungslage sich aufgehellt hat und die Weltverhältnisse wenigstens zu einem „kalten Krieg“ stabilisiert scheinen – hintergründig spielt Neumann mit dem Umkehrschluss: Ein Intellektueller, der in Frieden mit den Herrschenden leben will, hat sich seiner wahren Mission bereits begeben. Und das gilt eben nicht nur für die Diktatur, sondern auch für die Demokratie.3
Der folgende Essay skizziert den Lebensweg von Franz Neumann in politik- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive und will gleichzeitig exemplarisch herausarbeiten, welche Faktoren an der Herausbildung des „political scholar“ im 20. Jahrhundert mitgewirkt haben. Der Aufriss der vier Stationen – Arbeitsrechtler in der Weimarer Republik; politischer Exilant in London und New York; Kampf gegen Hitler während und nach dem Zweiten Weltkrieg; Politikprofessor in New York und Berlin – muss vor allem eines vermeiden: die finalistische Glättung einer ebenso rasanten wie kurvenreichen Lebensgeschichte,