Mit seiner Ernennung zum Jugendführer des Deutschen Reichs wurde Baldur von Schirach zum höchsten Staatsvertreter für Jugendorganisationen und bekleidete sowohl die Funktion eines Parteiführers als auch die eines Staatsführers. Er nutzte seine neuen Machtbefugnisse zur Koordination der gesamten Jugendbewegung und setzte damit den Anspruch der Partei auf vollständige Kontrolle in die Tat um. Er löste den Großdeutschen Bund auf, schloß die Scharnhorst-Jugend, die Arbeitsfront-Jugend und die Land-Jugend zu einer einzigen Bewegung zusammen und erreichte ein Abkommen mit den konfessionellen Jugendorganisationen.
Trotz seines politischen Monopols über sämtliche Jugendorganisationen gilt der Reichsjugendführer nicht als Staatsbeamter. Er gehört nicht zum Staatsdienst und untersteht nicht den Disziplinarbestimmungen für Beamte. Die Verbindung zwischen Hitlerjugend und Staat beruht einzig und allein auf der Tatsache, daß eine Person zwei Ämter innehat. Dennoch wird die HJ vom Staat finanziell unterstützt und genießt zahllose politische Privilegien.
Am 1. Dezember 1936 erließ die Reichsregierung das »Gesetz über die Hitlerjugend«, in dem es hieß: »Die gesamte deutsche Jugend innerhalb des Reichsgebietes ist in der Hitlerjugend zusammengefaßt«. Dasselbe Gesetz erhob den Reichsjugendführer zu einer Hitler unmittelbar unterstellten Obersten Reichsbehörde. Eine Verordnung vom 11. November 1939 gab ihm in allen die Jugend betreffenden Angelegenheiten die oberste Befehlsgewalt über die Beamten in Preußen, die Landesregierungen und die Reichskommissare in den besetzten Gebieten. Trotz alledem wird die Jugendbewegung nicht als »Staatsjugend« (wie z. B. die italienische Balilla), sondern als »Parteijugend« betrachtet.21 Reichs- und Landesbehörden sind einfach Mittel, mit deren Hilfe der Reichsjugendführer die Bedürfnisse der Partei erfüllt. Die HJ hat ihre eigene Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz, ausdrücklich festgelegt in der »Jugenddienstverordnung« vom 25. März 1939, die es für jeden Jugendlichen zwischen 10 und 18 Jahren zur Pflicht macht, in der Hitlerjugend zu dienen. In Anlehnung an Carl Schmitts »Dreigliederungs«-Theorie werden Elternhaus, Schule und Hitlerjugend als die drei Grundpfeiler der Jugenderziehung bezeichnet.
Als die Hitlerjugend so weit vergrößert worden war, daß sie die gesamte deutsche Jugend erfaßte, verlor sie ihren Parteicharakter. Es bedurfte einer neuen Organisation zur Formung zukünftiger Führer: die Durchführungsverordnung vom 25. März 1939 sorgte für die Schaffung einer solchen Elite, der »Stamm-HJ« innerhalb der Hitlerjugend. Die Mitgliedschaft ist freiwillig, und diese zentrale Gruppe ist wieder ein Parteiorgan im strengen Sinne des Wortes.22
5. Die Partei und der andere öffentliche Dienst
Das im vorangegangenen Abschnitt beschriebene Verhältnis von Partei und Staat kehrt sich in bezug auf den Arbeitsdienst, die Wehrmachtsverwaltung und das Beamtentum um: hier steht der Staat über der Partei. § 26 des Reichswehrgesetzes sieht die Aussetzung der Parteimitgliedschaft für die Dauer des Wehrdienstes vor. § 17 des Arbeitsdienstgesetzes (26. Juni 1935) verbietet – mit einigen wenigen Ausnahmen – die aktive Parteiarbeit während des Arbeitsdienstes. Zwar setzt § 11 des Beamtengesetzes das Inkompatibilitätsprinzip außer Kraft und erlaubt Beamten die Annahme eines unbezahlten Amtes in der Partei und den ihr angeschlossenen Verbänden ohne Sondergenehmigung; doch das wahre Verhältnis von Beamtentum und Partei geht am deutlichsten aus der »Anordnung über die Verwaltungsführung in den Landkreisen« vom 28. Dezember 1939 hervor. Diese Anordnung legt die »Menschenführung« in die Hände des Kreisleiters der NSDAP, der den übergeordneten Parteidienststellen für »die Stimmung und Haltung der Bevölkerung im Kreise« verantwortlich ist. Die Verantwortung für die Erfüllung der Aufgaben der staatlichen Verwaltung im Kreise liegt hingegen ausschließlich beim Landrat, in dessen Angelegenheiten Parteifunktionäre sich nicht einmischen dürfen; sie haben lediglich ein Vorschlagsrecht. Diese Anordnung zeigt deutlich, daß die absolute und ausschließliche Befehlsgewalt der staatlichen Exekutive trotz der ideologischen Degradierung des Staates in keiner Weise geschmälert ist. Mit Ausnahme von Polizei und Jugendbewegung hat das Beamtentum die höchste Macht, ist der Staat noch immer totalitär.
Die Schwierigkeiten, die sich aus dem äußerst zweideutigen Verhältnis von Partei und Staat ergeben, sind rechtlich durch das Führerprinzip gelöst; zudem sind viele hohe Parteiführer gleichzeitig hohe Staatsbeamte. An dieser Stelle wollen wir nur den gesetzlichen Rahmen darlegen; die soziologischen und politischen Implikationen werden später analysiert.23
An der Spitze wird die Einheit von Partei und Staat durch Adolf Hitler verkörpert, der zugleich Parteiführer und Staatschef ist. Der Stellvertreter des Führers der Partei ist Mitglied der Regierung, obwohl er kein Minister im eigentlichen Sinne ist.24 Alle Reichsstatthalter und die Mehrzahl der preußischen Oberpräsidenten sind zugleich »Gauleiter« der Partei. Der Leiter der Auslandsorganisation der NSDAP (Bohle) bekleidet dieselbe Stellung im Auswärtigen Amt (30. Juni 1937). Allerdings gibt es auch Abweichungen. So verfügt eine Anordnung vom 29. Februar 1937 zum Beispiel, daß der Kreisleiter der Partei nicht vollberuflich eine Verwaltungstätigkeit beim Land oder den Gemeinden ausüben darf. Andererseits unterstehen sowohl die staatlichen Behörden als auch die Parteidienststellen den Weisungen des Generalbevollmächtigten für die Bauwirtschaft (Todt) und des Beauftragten für den Vierjahresplan (Göring).
Parteiführer haben nicht nur häufig hohe Regierungsämter inne, sondern die Rechtshoheit der Partei hat auch einen offiziellen Status erhalten. Der Stellvertreter des Führers hilft bei der Ausarbeitung von Legislativ- und Exekutivvorschriften (z. B. den Verordnungen vom 25. Juli 1934 und 6. April 1935) und bei der Auswahl der direkt vom Führer zu ernennenden Beamten (§ 31 des Deutschen Beamtengesetzes vom 26. Januar 1937). Dasselbe gilt für die Reichsarbeitsdienstleiter (3. April 1936). In der Gemeindeverwaltung ist und bleibt der Vertreter der Partei ein Parteifunktionär (§ 6 der Reichsgemeindeordnung).
Aus alledem können wir folgern, daß es unmöglich ist, die NSDAP als Körperschaft des öffentlichen Rechts zu beschreiben. Diese Tatsache wird noch deutlicher, wenn wir die Frage der richterlichen Kontrolle, die entscheidende Frage für jede Körperschaft des öffentlichen Rechts, untersuchen. Die einhellige Meinung hierzu lautet, daß die Partei keiner wie auch immer gearteten Kontrolle unterliegt. Eine Zwangsvollstrekkung über das Vermögen der Partei wegen öffentlich- oder privatrechtlicher Forderungen ist nicht zulässig.25 Darüber hinaus sind die interne Verwaltung der NSDAP, ihre Gesetzgebungsstruktur und ihre Gerichtsbarkeit nicht mit anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts vergleichbar. Dokumente, die von den Parteiführern herausgegeben werden, sind Staatsdokumente, parteipolitische Führer sind Staatsdiener. Parteigerichte haben dieselben Befugnisse wie ordentliche Gerichte: sie haben das Recht, Zeugen und Sachverständige unter Eid zu vernehmen; einem unteren Parteifunktionär ist es nicht gestattet, vor einem Staatsgericht oder einem Verwaltungsorgan ohne Zustimmung der Parteichefs auszusagen. So werden staatliche Prärogativen, die die Beamten genießen, auf die Parteihierarchie übertragen, und so genießen Parteiuniformen und -einrichtungen denselben Schutz wie die Uniformen und Einrichtungen des Staates (Gesetz vom 20. Dezember 1934); das Parteivermögen ist steuerfrei (Gesetze vom 15. April 1935 und 1. Dezember 1936).
Die autonome Stellung der Partei kommt am besten in der Tatsache zum Ausdruck, daß sie nicht für schuldhafte Handlungen ihrer Amtsträger haftet, obwohl diese Haftung nach deutschem Recht für Amtsträger privater Körperschaften und für Staatsbeamte gilt (Artikel 131 der Weimarer Verfassung). Einige Oberlandesgerichte und das Reichsgericht haben auf Haftung der Partei für schuldhaftes Verhalten ihrer Amtsträger entschieden, insbesondere bei unpolitischen Angelegenheiten26, doch die Mehrzahl der Juristen und die meisten unteren Gerichte akzeptieren keinerlei Haftung. Die Partei beansprucht für sich ausdrücklich alle Privilegien des Staatsdienstes, lehnt aber jegliche Haftung ab. Sie kann nicht für schuldhafte Handlungen ihrer Beauftragten belangt werden, es sei denn, sie stimmt dem staatlichen Gericht in einem Sonderfall aus freiem Willen zu.27 Die NSDAP nimmt damit die Position ein, die normalerweise einem souveränen Staat gegenüber einem anderen zukommt. Sollte sich diese Situation auf sämtliche Bereiche erstrecken, dann wird die Partei letzten Endes über dem Staat stehen.
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