»Ja, natürlich. Aber vielleicht tut ihm seine Tat mittlerweile zutiefst leid und er hat auf eine Chance gehofft, uns das zu beweisen.«
Ben schnaubte nur. »Selbst wenn, so wie die Dinge gerade liegen, können wir es uns nicht leisten, Verrätern großzügig zweite Chancen zu geben.«
»Nein, definitiv nicht«, stimmte Quin ihm zu. »Es könnte für uns aber von Vorteil sein, wenn in Konstantins Armee Leute kämpfen, die ihm nur halbherzig folgen.«
Ignatius hob die Hände und beendete damit die Diskussion. »Es ist müßig, sich darüber Gedanken zu machen. Halten wir uns lieber an die Fakten. Wir sind von Anfang an davon ausgegangen, dass die Wegelagerer gegen uns sein werden, und daran hat sich nichts geändert. Also sollten wir an unserem Plan festhalten.« Er wandte sich an Kaelan, Ari, Noah, Liv und Zoe. »Das bedeutet, dass wir uns jetzt von euch verabschieden müssen.« Er sah die fünf der Reihe nach an. »Ihr wisst, was ihr zu tun habt und wir wissen, dass ihr euer Bestes geben werdet.« Er schüttelte ihnen die Hände und bedachte sie mit einem zuversichtlichen Lächeln. »Der Engel wird mit euch sein.«
Damit war der Moment des Abschieds gekommen.
Mia trat zu Ari, musterte ihn kurz und zog ihn dann fest in ihre Arme. »Karl ist keinen weiteren deiner Gedanken wert, okay? Was er getan hat, kann man nicht mehr ändern. Also konzentrier dich auf die Gegenwart und deine Zukunft. Ihr habt eure Aufgabe als Cays bald geschafft und dann gehören eure Leben euch.«
Ari nickte stumm und erwiderte die Umarmung. Mia war einer der wichtigsten Menschen in seinem Leben und der Gedanke, dass sie in acht Tagen als Freiwillige mit in den Kampf zog, vertrieb die widerliche Begegnung mit Karl sehr schnell aus seinem Kopf. Ari wusste, wie gut Mia als Kämpferin war. Das änderte aber nichts daran, dass er eine Scheißangst hatte, sie zu verlieren. Raik war schließlich auch einer der besten Kämpfer aus ihren Reihen gewesen.
»Pass auf dich auf«, murmelte Ari und drückte sie fest an sich, obwohl seine verletzte Schulter ihm das übel nahm. Aber das war ihm gerade vollkommen egal. Falls das hier ihre letzte Umarmung war … falls Mia – er schluckte hart und wollte den Gedanken nicht zu Ende denken.
»Natürlich«, antwortete sie leise und hielt ihn für einen extralangen Moment in ihren Armen. Dann küsste sie liebevoll seine Stirn und sah ihm in die Augen. »Und für dich gilt das Gleiche: Pass auf dich auf. Und schone deine Schulter so gut es geht. Du gehst nur mit auf diese Reise, weil du für das Ritual gebraucht wirst. Alles andere überlässt du den anderen, klar? Wenn die Zeit nicht so drängen würde, würde ich dir noch für wenigstens eine Woche Ruhe verordnen und dich von Marta aufpäppeln lassen. Also halte dich zurück und überlass Heldentaten den anderen. Du hast auf der letzten Reise mehr als genug geleistet. Auf dieser steht nur das Ritual für dich an, okay?«
Ari schnitt ihr eine Grimasse. »Sicher.«
Mia dolchte ihren Blick noch einen Moment länger in seinen, dann sah sie zu Kaelan.
Der nickte. »Keine Sorge. Ich passe definitiv auf ihn auf.«
Mia zog ihn ebenfalls in ihre Arme. »Auf dich auch, verstanden?«
»Klar.«
»Gut.« Sie schob ihn von sich und klopfte ihm kurz auf die Schultern. Dann wandte sie sich Noah zu.
Der schluckte. Abschied nehmen war nicht sein Ding und von Mia fiel es doppelt schwer. Obwohl er sie noch nicht lange kannte, hatte sie ihm in der kurzen Zeit mehr Sicherheit, Fürsorge, Bedingungslosigkeit und Liebe geschenkt als es je ein anderer Erwachsener in seinem Leben getan hatte. Außer Ben. Er war genau wie sie und auch wenn Noah sich nur langsam an das Gefühl gewöhnte, leibliche Eltern zu haben, war ihm längst klar, wie ungeheuer wichtig ihm die beiden geworden waren.
Aber er war einfach nicht besonders gut darin, das in Worte zu fassen. Selbst bei Liv hatte er kaum die richtigen gefunden und bei Mia war es sogar noch schwieriger.
»Das, was Ari gesagt hat«, murmelte er deshalb leicht verlegen. »Pass auf dich auf, ja? Und auch auf Ben.« Es war schließlich offensichtlich, von wem seiner Eltern er seine Hitzköpfigkeit geerbt hatte.
Mia lächelte gerührt, zog ihn an sich und gab ihm einen Kuss auf die Schläfe. »Auf jeden Fall.« Dann zog sie auch Liv mit in ihre Umarmung und hielt beide eine ganz Weile lang fest. »Seid füreinander da und haltet euch gegenseitig den Rücken frei«, sagte sie, als sie die zwei wieder losließ. »So werden Ben und ich es auch machen.«
Überall in der Küche wurde jetzt umarmt und gedrückt, zur Vorsicht ermahnt und viel Glück gewünscht.
Auch Ben zog Noah kurz aber fest an sich und strubbelte ihm väterlich durchs Haar. »In spätestens zwei Wochen sehen wir uns hier wieder«, sagte er in einem Tonfall, der keine Zweifel zuließ, und wandte sich dann an Liv. »Bis dahin hab ich vollstes Vertrauen in dich, dass du dafür sorgen wirst, dass dieser Hitzkopf nicht Kopf und Kragen riskiert.« Er schloss auch sie kurz in seine Arme und fügte dann leiser hinzu: »Es ist ein gutes Gefühl, dich an seiner Seite zu wissen.«
Gerührt erwiderte Liv die Umarmung.
»Und wehe ich muss mir wieder Berichte über Harpyienangriffe und Lawinen anhören, wenn ihr zurückkommt!«, drohte Marta, als die fünf sich auch von ihr verabschiedet hatten. »Denkt an mein armes Herz!«
»Na ja«, meinte Zoe, während sie ihre Lederjacke zuknöpfte und die Kapuze überzog. »Ich schätze, das mit der Lawine wird in den Roten Bergen schwer. Da es dort affenheiß ist, könnte es, wenn überhaupt, nur eine Gerölllawine sein und die hatten wir dank ein paar tollpatschiger Gnome eigentlich schon in den Weißen Bergen.« Sie grinste. »Damit können wir die also von unserer To-Do-Liste streichen.«
Gespielt empört stemmte Marta eine Hand in die Hüfte und deutet mit der anderen zur Tür. »Raus!«
Kapitel 4
Der Regen fiel in dichten Schleiern herab, als die fünf ausgestattet mit Handkarren, Körben und Rucksäcken die steile Straße vom Kloster hinunter in die Stadt liefen. Da sie häufiger gemeinsam oder paarweise kleinere Besorgungen in Burgedal erledigten, würden sich mögliche Beobachter nicht wundern, dass sie auch heute – trotz Regen – loszogen, um ein paar Einkäufe zu erledigen. Um die Tarnung perfekt zu machen, hatte Ari bei ihren vorherigen Streifzügen durch die Stadt sogar Vin im Kloster gelassen. Eigentlich hatten sie so austesten wollen, ob er den kleinen Wolf während der Reise zu den Drachen im Kloster lassen konnte, aber das hatte sich schnell als unmöglich herausgestellt. Blieb Ari zu lange fort, heulte Vin das ganze Kloster zusammen, was ein heimliches Verschwinden der Cays unmöglich machte. Daher hatte Ari Vin beigebracht, sich in einem Rucksack tragen zu lassen, um ihn ungesehen aus dem Kloster zu schleusen.
Die fünf sprachen nicht viel, während sie den Weg zur Stadt hinabliefen. Der Abschied von ihren Eltern, Marta und Ignatius lastete allen auf der Seele. Gleichzeitig waren alle angespannt, weil der Austausch mit ihren Doppelgängern bevorstand und reibungslos funktionieren musste. Wenn etwas schiefging, war ihr Täuschungsmanöver und die ausgeklügelte Planung der letzten Tage dahin.
Liv blickte sich geschützt durch ihre Kapuze verstohlen um. Es war ein seltsames Gefühl, davon ausgehen zu müssen, dass man sie beobachtete. Wie ein ständiges ungutes Kribbeln im Nacken. Wo mochten sich Konstantins Beobachter versteckt halten? Liv wagte nicht, sich zu offensichtlich umzusehen. Bloß kein Misstrauen erwecken.
In ihrer Gasse begegnete ihnen kaum jemand. Die tiefhängenden grauen Wolken sorgten dafür, dass es früher als sonst zu dämmern begann, und der Regen trieb die Burgedaler in ihre Häuser. Wie abgesprochen hatten die Sylphen für das Täuschungsmanöver das richtige Wetter besorgt. Die Windgestalten an ihrer Seite zu haben, war definitiv praktisch.
Die fünf erreichten den Marktplatz, auf dem sonst kurz vor der Abendzeit immer reges Treiben herrschte, weil die Händler die letzten Waren des Tages günstiger anboten