VERBRECHEN AM FUSSBALL. Michael Bahrs. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Bahrs
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783782214841
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Blick »einfacher«.

      Das Leben ist aber nicht einfach. Menschen sind nicht einfach. Der Mensch muss sich selbst wohlfühlen. Ich glaube, dass unser ureigener Antrieb eine gesunde Selbstzufriedenheit ist. Mir halten Leute oft vor, dass meine Ansprüche an mich und andere zu hoch seien. Das mag ja sein, allerdings doch wohl nur aus deren Sicht. Und wenn diese Menschen für sich selbst entscheiden, sich mit weniger zufriedenzugeben, dann ist das völlig in Ordnung.

      Ich bin da tatsächlich anders. Dieses Anderssein verfolgt mich schon mein gesamtes Leben. Im Guten wie auch im Schlechten. Aber das muss ich akzeptieren, und das habe ich auch (inzwischen) akzeptiert.

      Ich bin ein richtiger Dortmunder Junge, aufgewachsen in Dortmund-Kirchlinde, genauer gesagt: in der Zechensiedlung Hangeney. Der Hangeney ist für mich das Synonym einer großartigen Kindheit. Hier spielte das Leben. Dort lebten alle irgendwie zusammen. Ich durfte mit meiner Familie und meinen Freunden Teil dieser Gemeinschaft sein.

      Im menschlichen Zusammenhalt ist der Hangeney vielleicht vergleichbar mit dem Viertel Little Italy in Manhattan, nur kleiner, noch familiärer – und ohne Mafia. Meine besten Freunde leben dort immer noch oder zumindest ganz in der Nähe.

      Ich bin weitgehend bei meinen Großeltern väterlicherseits aufgewachsen. Meine Eltern waren beide berufstätig, und so kümmerten sich die Großeltern um mich. Irgendwann wollte ich da nicht mehr weg. Mein Opa war Bergmann, wie die meisten Männer im Hangeney. Wir wohnten in der Hangeneystraße 40, im Zentrum des Hangeney.

      Wenn ich an alte Schwarz-Weiß-Fotos denke, fallen mir spontan Bilder und Szenen aus meiner Kindheit ein. Mein Vater und mein Opa trugen Rollkragenpullis und Schlaghosen und hatten meist einen Glimmstängel im Mundwinkel. Oma gab sich immer große Mühe, äußerst attraktiv in die Kamera zu lächeln. Und meine Mutter posierte mit Retro-Frisur und einem halblangen Kittel vor einer Tapete, bei deren Betrachtung einem heute schwindelig werden würde.

      Meine Oma und mein Opa haben mich erzogen. Wahrscheinlich haben wir uns wie in den meisten Familien auch mal gestritten und uns böse Worte an den Kopf geschmissen, doch eines ist heute die Basis aller meiner Erinnerungen: Ich habe bedingungslose Liebe erfahren! Und bedingungslosen Rückhalt!

      Bei meinen Großeltern hatte ich alle Freiheiten, viel mehr als meine Freunde. Aber ich hatte auch meine Pflichten. Eigentlich war es nur eine Pflicht. Ich sollte die Schule ernst nehmen. Nein, ich war kein besonders guter Schüler, aber ich war eben auch kein schlechter.

      Schon ziemlich früh stellte ich das System Schule infrage. Weil mir die Gerechtigkeit fehlte. Auch so ein Begriff, den man kaum definieren kann. Was ist denn Gerechtigkeit? Streiten wir uns nicht täglich, weil wir uns irgendwo ungerecht behandelt fühlen?

      In der Schule führte das dazu, dass eine meiner Lehrerinnen beim Elternsprechtag meiner Oma sagte: »Ich traue mich gar nicht, dem Michael eine Drei zu geben, dann kommt er sofort und möchte es mit mir ausdiskutieren.« Die Lehrerin lächelte bei dieser Aussage, meine Oma übrigens auch, und nach dem Verlassen des Klassenraums tätschelte sie mir den Kopf und zwinkerte mir zu.

      Ich war wohl schon immer auf der Suche nach Gerechtigkeit. Obwohl diese Suche nie endet und ich selbst ja auch ständig ungerecht bin, treibt mich das an. In unserer Abschlusszeitung der Realschule sollten wir unseren besten Freund mit einem Gedicht von der Schule verabschieden. Ich hatte drei beste Freunde. Meinen Opa und zwei Schulkameraden, mit denen ich von 1972 an Tür an Tür lebte und zu denen ich auch heute noch einen Kontakt pflege, wie es nur Freunde können.

      Einer dieser Freunde schrieb folgende Zeilen über mich »… werden möcht’ er Polizist, weil er ein Gerechter ist …« Bis heute freue ich mich über diesen kleinen kindlichen Vers, denn so haben mich meine Freunde wahrgenommen. Es macht mich stolz, als jemand gesehen zu werden, dem Gerechtigkeit wichtig ist. Wenn man diesen Weg geht, stößt man aber ganz oft an seine Grenzen.

      Polizist werden! Dieser Wunsch war sehr früh da, im Prinzip schon im Kindergarten. Mein Vater und mein Onkel waren Beamte der Schutzpolizei, da wollte auch ich hin. Doch diesem Wunsch wurde gleich am Anfang ein Hindernis in den Weg gelegt, das mich wütend und traurig zugleich machte.

      1988 habe ich mich nach dem Abschluss der Realschule bei der Polizei beworben. Die Aufnahmeprüfung in Münster hatte ich bestanden, der Leiter, der die Tests durchgeführt hatte, verabschiedete mich mit den Worten: »Dann sind wir ja jetzt Kollegen.« Am nächsten Tag stand nur noch eine Hürde an: die ärztliche Prüfung. Ich hatte keinerlei Zweifel, dass ich auch die meistern würde. Mein Vater war allerdings skeptisch. Er sagte, wenn bestimmte Quoten landesweit erfüllt, also alle Planstellen besetzt sind, dann wird es zum Glücksspiel …

      Ich fuhr wieder nach Münster, absolvierte die Untersuchungen und dachte: Das war’s! Das war’s auch, allerdings anders, als ich gedacht hatte. Ich bekam den Bescheid, dass ich den Augentest nicht bestanden hätte, ich hätte Schwächen beim räumlichen Sehen. Dazu muss ich sagen, dass nicht Ärzte den Sehtest durchgeführt hatten, sondern Sanitäter von der Polizei. Das waren Polizisten.

      Dieser Bescheid war niederschmetternd. Als ich den Raum verlassen hatte, brach für mich eine Welt zusammen. Ich rief zu Hause an, mein Vater holte mich ab. Noch am gleichen Tag fuhren wir zu einem Augenarzt. Dort machte ich die entsprechenden Tests noch einmal, sogar unter verschärften Bedingungen. Der Augenarzt bescheinigte mir, dass ich diesen Mangel, von dem die Polizeisanitäter gesprochen hatten, mit Nutzung von Kontaktlinsen oder einer Brille überhaupt nicht hatte.

      Den Befund des Augenarztes schickte ich zum zuständigen Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten (LAFP). Nach einigen Wochen wurde ich erneut eingeladen. Wieder der gleiche Sehtest, wieder mit Polizeisanitätern, wieder das gleiche Ergebnis: nicht bestanden. Ich wies auf die Diagnose und das Schreiben meines Augenarztes hin und bekam die Antwort: »Wir wissen ja nicht, wie gut du deinen Augenarzt kennst.« Die schickten mich also wieder eiskalt nach Hause. Ich fühlte mich ungerecht behandelt, weil alles mit einer Lüge angefangen hatte.

      Nachdem mein Traum von einer Laufbahn im Polizeidienst offenkundig gescheitert war, stellte sich die Frage: Was sollte ich nun machen? Ich bewarb mich wahllos für irgendwelche kaufmännischen Berufsausbildungen. Außerdem fuhr ich mit meinem Vater zur Uniklinik. Dort ließen wir uns ein kostenpflichtiges Gutachten eines Professors erstellen, Kostenpunkt: 250 Mark. Der kam zu dem Ergebnis, dass ich die Voraussetzungen für den Polizeidienst erfüllte – und zwar um Längen über den üblichen Rahmen hinaus.

      Dieses Gutachten schickte ich wieder nach Münster, wurde erneut eingeladen – und mit der gleichen »Diagnose« erneut abgewiesen. Selbst das Gutachten eines Professors reichte den Sanitätern nicht aus.

      Ich war am Boden zerstört. Wieder wurde ich angelogen, wieder betrogen. Ein junger Mann, der voller Idealismus steckte und Polizist werden wollte. Und den betrügen ausgerechnet seine Vorbilder, die Hüter von Recht und Gesetz.

      Inzwischen hatte ich eine Lehre als Speditionskaufmann begonnen. Gleichzeitig schrieb ich mit meinem Vater einen Brief an den Innenminister von Nordrhein-Westfalen und schilderte den Sachverhalt. Meine Quintessenz lautete: Es sei sehr traurig und schade, dass in NRW offensichtlich nur Supermänner bei der Polizei angenommen werden.

      Nach einiger Zeit bekam ich vom Innenministerium ein Schreiben, ich solle mich bei der Universitätsklinik Münster vorstellen. Deren Ergebnis sei für den Polizeidienst bindend.

      Wieder fuhr ich nach Münster, in der Hoffnung, dass es diesmal klappte.

      Der Test war sehr langwierig. Die Ärzte durchleuchteten meine Augen regelrecht – und kamen ziemlich schnell zu dem Ergebnis, dass die Typen von den Polizei-Sehtests offenbar selbst einen Sehtest bräuchten. Laut Uni-Klinik waren meine Augen voll polizeitauglich.

      Dieses Ergebnis habe ich samt einer Kopie des Schreibens vom Innenministerium an die LAFP Münster geschickt. Und die fragten dann tatsächlich bei mir an: »Waren Sie nicht schon mal hier?«

      Ich sprach mit meinem Chef bei der Spedition. Der hatte Verständnis, weil er auch mal Polizist hatte werden wollen und offenbar ähnliche Erfahrungen machen musste. Jedenfalls ließ er mich aus meinem Lehrlingsvertrag