›Es gab keinen mutigeren Mann im Regiment. Er hat mich einmal aus dem Gewehrfeuer der Buren herausgeschleppt – sonst säße ich wahrscheinlich nicht hier.‹
Der alte Butler rieb sich die mageren Hände.
›Ja, Sir, ja, das ist Master Godfrey, wie er leibt und lebt. Er war schon immer tapfer. Im Park gibt es nicht einen Baum, Sir, auf den er nicht geklettert ist. Nichts konnte ihn aufhalten. Er war ein feiner Junge, und – oh, Sir, er war ein feiner Mann.‹
Ich fuhr hoch.
›Hören Sie!‹ rief ich. ›Sie sagen, er war. Sie reden, als ob er tot wäre. Was hat diese ganze Geheimniskrämerei zu bedeuten? Was ist mit Godfrey Emsworth geschehen?‹
Ich packte den Alten an der Schulter, aber er drehte sich weg.
›Ich weiß nicht, was Sie meinen, Sir. Fragen Sie den Herrn nach Master Godfrey. Er weiß Bescheid. Mir kommt es nicht zu, mich einzumischen.‹
Er war im Begriff, den Raum zu verlassen, aber ich hielt ihn am Arm fest.
›Hören Sie‹, sagte ich. ›Eine Frage werden Sie mir noch beantworten, bevor Sie gehen, und wenn ich Sie die ganze Nacht festhalten muß. Ist Godfrey tot?‹
Er konnte mir nicht in die Augen sehen. Er war wie hypnotisiert. Nur mühsam ging ihm die Antwort über die Lippen. Sie war schrecklich und unvermutet.
›Ich wünschte bei Gott, er wäre es!‹ rief er; dann riß er sich los und stürzte aus dem Zimmer.
Sie können sich denken, Mr. Holmes, daß ich in nicht gerade glücklicher Verfassung zu meinem Stuhl zurückgegangen bin. Die Worte des Alten schienen mir nur eine Erklärung zuzulassen. Offenbar war mein Freund in irgendwelche kriminelle oder zumindest unehrenhafte Geschäfte verwickelt, die den guten Ruf der Familie antasteten. Der strenge alte Herr hatte seinen Sohn fortgeschickt und vor der Welt versteckt, damit kein Skandal ans Licht käme. Godfrey war ein unbekümmerter Bursche. Er ließ sich leicht beeinflussen von seiner Umgebung. Ohne Zweifel war er in üble Gesellschaft geraten und ins Verderben gestürzt worden. Eine traurige Geschichte, wenn das wirklich zutraf; aber selbst dann war es meine Pflicht, ihn aufzuspüren und zu sehen, ob ich ihm helfen konnte. Voll Sorge grübelte ich gerade über die Sache nach, als ich hochsah und Godfrey Emsworth vor mir stand.«
Mein Klient hatte wie in tiefer Erregung innegehalten.
»Bitte fahren Sie fort«, sagte ich. »Ihr Problem weist einige sehr ungewöhnliche Merkmale auf.«
»Er stand draußen vor dem Fenster, Mr. Holmes, das Gesicht gegen die Scheibe gepreßt. Ich habe Ihnen ja schon erzählt, daß ich in die Nacht hinausgeschaut hatte. Danach ließ ich die Vorhänge ein Stück weit offen. Und von dieser Öffnung wurde seine Gestalt eingerahmt. Das Fenster reichte bis zum Boden, und ich konnte sie in ihrer ganzen Länge erkennen; aber es war das Gesicht, was meinen Blick in Bann hielt. Es war totenbleich – noch nie habe ich einen so blassen Mann gesehen. Vermutlich sehen Gespenster so aus, aber seine Augen trafen auf meine, und es waren die Augen eines lebenden Menschen. Als er merkte, daß ich ihn anschaute, sprang er zurück und verschwand in die Dunkelheit.
Es war etwas Erschreckendes an dem Mann, Mr. Holmes. Es war nicht nur dieses grausige Gesicht, das so käsebleich in der Dunkelheit schimmerte. Es war noch was dahinter: etwas Verstohlenes, Heimliches, Schuldbewußtes – etwas, was zu dem aufrichtigen, mannhaften Burschen, den ich gekannt hatte, überhaupt nicht paßte. Es hinterließ in mir ein Gefühl des Grauens.
Aber wenn man ein oder zwei Jahre als Soldat mit Kamerad Bure Krieg gespielt hat, dann behält man die Nerven und handelt schnell. Godfrey war kaum verschwunden, als ich auch schon am Fenster war. Der Griff klemmte, und es dauerte ein Weilchen, bis ich es aufreißen konnte. Dann flitzte ich durch und rannte den Gartenweg hinunter, in die Richtung, die er meiner Meinung nach eingeschlagen haben könnte.
Der Weg war lang, und es war nicht sehr hell, doch mir war so, als ob sich vor mir etwas bewegte. Ich rannte weiter und rief seinen Namen, aber es hatte keinen Zweck. Als ich das Ende des Weges erreichte, zweigten da mehrere andere Pfade zu verschiedenen Gartenhäusern ab. Ich blieb unschlüssig stehen, und da hörte ich deutlich das Geräusch einer sich schließenden Tür. Es kam nicht von hinten aus dem Haus, sondern irgendwo aus der Dunkelheit vor mir. Das genügte, Mr. Holmes, um mich davon zu überzeugen, daß das, was ich gesehen hatte, keine Vision war. Godfrey war vor mir weggelaufen und hatte eine Tür hinter sich zugemacht. Dessen war ich mir sicher.
Mehr konnte ich nicht tun, und ich verbrachte eine unruhige Nacht, wobei ich mir die Sache durch den Kopf gehen ließ und versuchte, eine zu den Tatsachen passende Theorie zu finden. Am nächsten Tag kam mir der Colonel etwas versöhnlicher vor, und als seine Frau die Bemerkung machte, daß es in der Umgebung einige Sehenswürdigkeiten gebe, nutzte ich die Gelegenheit zu fragen, ob ihnen eine weitere Übernachtung sehr ungelegen käme. Die etwas widerwillige Zustimmung des Alten gewährte mir einen ganzen Tag, an dem ich meine Beobachtungen machen konnte. Ich war schon völlig davon überzeugt, daß sich Godfrey irgendwo in der Nähe versteckt hielt; aber wo und warum blieb noch herauszufinden.
Das Haus ist so groß und weitläufig, daß man darin ein Regiment verstecken könnte, ohne daß jemand was merkt. Wenn sich dort das Geheimnis verbarg, würde es mir schwerfallen, es zu ergründen. Aber die Tür, die ich zugehen gehört hatte, befand sich mit Sicherheit nicht im Haus. Ich mußte also den Garten auskundschaften und sehen, was ich herausfinden konnte. Das war ohne weiteres möglich; die alten Leutchen waren nämlich mit sich selbst beschäftigt und kümmerten sich nicht um mich.
Es gibt mehrere kleine Nebengebäude, aber am Gartenende befindet sich ein einzelnes, ziemlich großes – groß genug, um einem Gärtner oder Wildheger als Wohnung zu dienen. War das vielleicht die Stelle, von der das Geräusch der zugehenden Tür gekommen war? Ich ging so unbekümmert darauf zu, als ob ich ziellos im Gelände herumspazierte. Als ich mich näherte, kam ein kleiner, lebhafter, bärtiger Mann heraus, in einem schwarzen Mantel und mit einer Melone auf dem Kopf – ganz und gar nicht der Typ eines Gärtners. Zu meiner Überraschung schloß er die Tür hinter sich ab und steckte den Schlüssel ein. Dann schaute er mich ziemlich verblüfft an.
›Sind Sie hier zu Besuch?‹ fragte er.
Ich bejahte und erklärte, ich sei ein Freund von Godfrey.
›Wie schade, daß er verreist ist; er hätte sich nämlich bestimmt gefreut, mich zu sehen‹, fuhr ich fort.
›Ja doch. Ganz bestimmt‹, sagte er mit einer etwas schuldbewußten Miene. ›Aber Ihr Besuch läßt sich zweifellos zu einem günstigeren Zeitpunkt wiederholen.‹ Er ging weiter, doch als ich mich umdrehte, bemerkte ich, daß er am anderen Ende des Gartens, halb verdeckt von den Lorbeerbüschen, stehenblieb und mich beobachtete.
Als ich an dem kleinen Haus vorbeikam, schaute ich es mir gut an; die Fenster waren mit schweren Gardinen verhängt, und soweit man etwas erkennen konnte, war es leer. Womöglich würde ich mir mein eigenes Spiel verderben und sogar aus dem Haus gewiesen werden, wenn ich allzu keck vorginge; denn ich war mir bewußt, daß ich immer noch beobachtet wurde. Ich schlenderte also zum Haus zurück und wartete die Nacht ab, ehe ich meine Untersuchungen fortsetzte. Als alles dunkel und still war, schlüpfte ich aus meinem Fenster und begab mich so leise wie möglich zu dem mysteriösen Gartenhäuschen.
Ich habe schon erwähnt, daß die Fenster mit schweren Gardinen verhängt waren, aber nun waren auch noch die Läden geschlossen. Durch einen drang jedoch etwas Licht, daher konzentrierte ich mich auf dieses Fenster. Ich hatte Glück; die Gardine war nämlich nicht ganz zugezogen, und der Laden hatte eine Ritze, so daß ich ins Zimmer hineinsehen konnte. Es war eine recht freundliche Unterkunft, mit heller Lampe und flackerndem Kaminfeuer. Mir gegenüber saß der kleine Mann, den ich morgens getroffen hatte. Er rauchte Pfeife und las eine Zeitung ...«
»Was für eine Zeitung?« fragte ich.
Mein