»Du musst dir das so vorstellen: Wir sind keine der üblichen Theatergruppen, unsere Maxime heißt: ›Theater für Arbeiter‹, bei uns steht die politische Überzeugung im Vordergrund. Außerdem versuchen wir uns auch in anderen Formen, zum Beispiel Pantomime, Gedichte, Lieder und Sprechchöre. So kann man nämlich Menschen besser erreichen, auch jene, die zu den Zurückhaltenden gehören. Wir müssen alle Arbeiter mobilisieren, damit sich etwas ändert, weißt du?«
Herberts Augen funkeln vor Begeisterung und Aaron ist ganz gefesselt von seinen Ausführungen, hängt an seinen Lippen. Der Kaffee wird kalt. Likör und Weinbrand werden nachbestellt, unter dem Tisch streifen sich ihre Knie. Erste Küsse werden ausgetauscht. Die beiden schauen sich tief in die Augen. Ihre Hände greifen ineinander. Hier müssen Männer, die sich begehren, nichts befürchten. Aaron löst sich aus Herberts Händen und greift in sein Zigarettenetui, Herbert zaubert in Windeseile Streichhölzer aus seiner Hosentasche und entzündet eines davon. Aaron zieht an seiner Zigarette und bläst mit dem blauen Dunst das Zündholz aus. Die beiden Gesichter nähern sich an, sie sind sich so nah, dass sie einander riechen können. Herbert nimmt Aaron die Zigarette aus der Hand, drückt sie aus, will küssen, ohne zu denken. Aaron schaut der Zigarette hinterher, schaut hoch, betrachtet das Gesicht von einem wunderschönen Mann, wie gerne würde er denken: von meinem Mann, es sagen, fühlen bis in alle Ewigkeit. Und wieder treffen sich weiche, zarte, fordernde Lippen. Es ist, als müsste Aaron Luft holen, um einen klaren Kopf zu bekommen und erzählt Herbert einen Traum von ihm.
»Ich bin bei der Ufa Statist, man könnte sagen, wir sind Kollegen.«
Herbert runzelt die Stirn, »Na, ich glaub’, das kann man nicht unbedingt vergleichen ...«, lacht dann, holt tief Luft, als würde er im nächsten Moment die Kerzen einer Geburtstagstorte ausblasen wollen. Er ist aufgeregt, reibt sich die Hände unter dem Tisch an den Hosenbeinen trocken.
Aaron ist ganz hingerissen von dem schönen Hünen, und legt seine Hände auf den Tisch, sodass Herbert seine hineinlegen kann, dabei rollt Aaron verschmitzt die Augen und lächelt sein Gegenüber an: »Also gut ... Ich wohne im Wedding, habe drei jüngere Geschwister, rauche amerikanische Zigaretten, interessiere mich für Automobile, und für einen großen blonden jungen Mann ...«, lächelt Aaron, »so ... das reicht für den Anfang. Natürlich möchte ich auch von dir alles wissen.« Die beiden strecken ihre Köpfe, küssen sich lange und zärtlich dabei.
»Ich bin Rucksack-Berliner ...«, Herbert in Aufregung, »und komme aus Hohenfinow, das Kaff liegt etwa 60 Kilometer nordöstlich von Berlin entfernt ... dass ich in Berlin besser aufgehoben bin, kannst du dir sicher denken.« Er lächelt, schaut Aaron tief in die Augen, »und ich denke dabei nicht nur an mein Studium ...« Der Satz wird mit einem zärtlichen Kuss beendet.
Der Kellner wird herbeigewunken, die Rechnung beglichen. Der Alkohol ist den beiden zu Kopf gestiegen. Albernheit macht sich breit, sie kichern, schauen sich unentwegt an.
Draußen steht das Fahrrad zwischen zwei sich begehrenden Körpern.
»Wohin?«
»Wannsee?«
Aaron drückt Herbert das Rad in die Hände, dieser übernimmt, setzt sich auf den Sattel und fährt eiernd los. Aaron springt auf den Gepäckträger, beinahe wären sie mit dem Rad umgekippt.
Der See liegt ruhig. Familien verbringen ihren freien Sonntag hier, denken dabei nicht an das Morgen. Der Alltag ist weit weg, nur der Moment zählt. Zwei junge Männer in einem Ruderboot, Herbert hält die Ruder. Aaron sitzt ihm gegenüber. Solange die beiden sich in Sichtweise der Ausflügler befinden, halten sie sich zurück.
Die Zeit vergeht, ohne dass sie das Boot verlassen wollen. Sie liegen unbequem in einer Nussschale. Hemden sind längst ausgezogen, Haut berührt sich. Lippen, Zunge, Hände sind neugierig, erregt. Stöhnen wird unterdrückt. Leidenschaft überflutet die beiden. Schweißperlen rinnen von der Stirn, Rücken, Brust und Hände sind schweißnass. Hosen kleben am Hintern, an den Beinen.
»Noch nicht alles am ersten Tag«, bittet Herbert. Wie soll er sagen, dass er erst zweimal so weit gegangen ist? Wird Aaron verstehen, dass er Zeit braucht, weil es dieses Mal so ganz anders ist als mit den anderen beiden? Da war nichts mit pochendem Herzen. Aaron scheint so erfahren, weiß sicherlich alles über die große Liebe zwischen zwei Männern.
»Was ist los, mein Herz? Wo bist du in Gedanken? Ich merke doch, dass dich etwas beschäftigt.«
»Ich will das nicht hier in aller Öffentlichkeit. Das sollte doch nur uns beiden gehören.«
Ein Lächeln breitet sich auf Aarons Gesicht aus, er nimmt Herbert in die Arme, weiche, volle Lippen küssen sich.
»Lass uns zurückrudern.«
Die zwei machen sich auf den Weg, Aarons Hand liegt auf Herberts Schulter. Unentwegt schauen sie sich an, bleiben zwischendurch stehen, um sich hinter einem Baum zu küssen.
»Wo musst du hin, mit welcher Linie fährst du?«, fragt Aaron.
»Mit dem 77er, nach Charlottenburg. Ich wohne bei meiner Tante Klara.«
»In Ordnung, dann fahren wir zur nächsten Haltestelle. Der Bus kommt in zwanzig Minuten. Es bleibt noch ein wenig Zeit.«
»Wann sehen wir uns wieder, Aaron?«
»Tja, leider bin ich immer so beschäftigt mit meinen Berufen. Lass mal überlegen, Donnerstag kannst du mich abholen, ja?«
»Was meinst du mit Berufen? Statist kann man ja nur mehr als Hobby bezeichnen«, neckt Herbert.
»Liebesdienste und so ... also nichts Besonderes, bringt aber gutes Geld.«
Herbert glaubt, nicht richtig zu hören. Sein Magen verknotet sich. Einfach mal einen verführen, der nicht mit viel Erfahrung protzen kann, weil die Gefühle an erster Stelle stehen? Hat er Syphilis? Was für eine Rolle spiele ich? Fragen durchbohren seinem Kopf. »Los, verschwinde, du hattest deinen Spaß, nun geh schon und lach dich kaputt. Scheißstricher!«
Aaron reibt sich die Wange, hat nicht erwartet, eine gescheuert zu bekommen. Die schallende Backpfeife hat gesessen, hinterlässt deutliche Spuren. Herbert steigen Tränen in die Augen. Vorsichtig tritt Aaron auf ihn zu, möchte ihn ungeschickt in die Arme nehmen, doch Herbert stößt ihn weg.
»Bitte, du musst das akzeptieren ... Außerdem bin ich kein Stricher, ich steh nicht auf dem Alexanderplatz, wo sich Jungs für ein paar Mark fünfzig anbieten oder in einschlägigen Lokalen auf Freier warten. Ich habe Stammkunden, die wissen, was sich gehört, und sich nicht lumpen lassen. Ich brauche Geld, sehr viel Geld. Oder glaubst du, ich will als Trine enden, die im KaDeWe die Fenster dekoriert? Nein, bestimmt nicht. Ich habe großartige Wünsche, möchte das Schauspielern lernen, vielleicht irgendwann mal eine eigene schöne Wohnung, ein kleines, spritziges Auto besitzen. Von mir aus verachte mich, aber in einem musst du mir recht geben: Als Malocher oder kleiner Angestellter kann man in Deutschland nichts werden. Und glaube mir«, Aarons Stimme wird ganz leise, »mit dir, das ist etwas ganz Besonderes, das kann man gar nicht vergleichen. Ich möchte dich wirklich kennen lernen, alles von dir erfahren. Du hast doch auch Träume, oder?« Aarons Stimme zittert. Er macht einen Schritt auf Herbert zu, will seine Hand nehmen, sie halten, greift ins Leere.
»Ich weiß nicht, ob ich das möchte.«
Der Bus kommt, die Zeit drängt, Herbert steigt ein. Aaron steht regungslos auf dem Bürgersteig, schaut dem Bus hinterher.
Haltestelle Lietzenburger. Herbert steigt aus. Die Luft ist warm, für Verliebte geeignet, um sich an einem schönen Platz auf einer Parkbank aneinander zu kuscheln und von einer aufregenden Zukunft zu träumen, das Drumherum zu vergessen.
Seit Stunden läuft er ziellos durch die dunklen Straßen. Gaslampen säumen die Gehsteige, schenken gelbes Licht, werden zu Scheinwerfern, doch er spielt in keinem Film eine Rolle. Das Geschehene spukt in seinem Kopf, sodass er keinen klaren Gedanken fassen kann. So viel er auch hin und her überlegt, er kommt