Die drei Semester Kunststudium wurden ihr anstelle des üblichen vorbereitenden Praktikums angerechnet. Sie war 23 und die Älteste im Bachelor-Studiengang. Mindestens drei Viertel der Studierenden waren Frauen, die sie alle albern fand. Die meisten von ihnen, auch fast alle der wenigen Männer, trugen immer mal wieder den RIA-Button, rund und rot und weiß dokumentierten sie: Wir sind «Restauratoren in Ausbildung», organisiert und vereinigt, sie gehörten zusammen. Selina hatte keinen RIA-Button, avancierte aber schnell zur Spitzenschülerin, diesmal nicht nur im Theoretischen, sondern auch im Praktischen, was sie nur kurz genießen konnte. Die ersten Monate hatte sie mit ständigen Seitenblicken auf die Arbeiten der anderen verbracht, mit permanentem Vergleichen, Skalieren, Aussortieren all jener, die sich weniger geschickt anstellten als sie, bis sie schließlich alle überholt hatte, unwiderruflich «einsame Spitze» war, so der Seminarleiter, und dann schnell merkte, dass es auf Spitzen immer einsam war, und ein instabiler Standort war es auch. Sie stürzte ab in die Verachtung, schließlich war jeder Einäugige unter Blinden König, dies war kein Sieg, den sie wertschätzen konnte, sie war nur die schnellste von den lahmen Humplern, die den Künstlern hinterherhinkten, und das Schlimmste war, dass sie die meisten Bilder, an denen sie lernen sollte, wie man den Ausdruck des Originals erhielt, gar nicht als Kunst empfand, denn normalerweise waren das Beispiele der Malerei aus Mittelalter, Renaissance, Barock, außer ein paar Stillleben und Fürstenporträts durchweg religiöse Bilder, die sie immer mit einem gewissen Spott betrachtete. Was war das mehr als ihre Zeichnungen in ihrem abgebrochenen Studium? Was außer der Perfektion war hier perfekt? Lauter Kunsthandwerker, keine Künstler, da hätte Grete Siebenschein auch Konzertpianistin werden können. Und Selina S.? Fast täglich versicherte sie, dass sie «aber eigentlich an richtiger Kunst interessiert» sei, dass sie nicht das geringste Verständnis habe für das künstlerisch irrelevante Ethos des Berufs, den sie anstrebte, dass sie nicht einsehe, wieso man hier so etwas wie einen den Medizinern verwandten, geradezu hippokratischen Eid schwöre, die kümmerlichen Originalreste dieser misslungenen Machwerke niemals anzurühren, niemals verändernd einzugreifen, es jucke ihr in den Fingern, dem schrägen Mariengesicht den Ausdruck zu geben, den der Maler doch sicher gewollt, nur nicht gekonnt habe. Fast täglich passierte ihr so eine Verachtung dessen, was sie tat, bis eine Kollegin sie wütend anzischte und sagte: «Du bist genau wie ein depperter Autofreak, der seinen Panda in eine Parklücke quetscht und wenn er aussteigt, jedem, der es nicht hören will, entgegenschreit: ‹Aber eigentlich fahre ich einen Daimler!›»
Betroffen dachte Selina an Stefans «Du bist wie Grete Siebenschein», das hatte sie einmal als vernichtend empfunden – und nun dies!
Danach schwieg sie, doch das «Aber eigentlich fahre ich einen Daimler» drehte sich weiter in ihrem Kopf wie der Propeller eines Hubschraubers, der nicht abheben konnte und geduckt am Boden blieb, flugunfähig, plump und sinnlos.
Sie beschloss, sich nicht mehr gegen Tatsachen zu wehren, sondern sich täglich zu sagen: «Ich studiere jetzt …», aber sie zuckte zurück. Sie suchte einen Halt in ihrer faktischen Lebenswirklichkeit und sagte sich, auswendig gelernt, immer wieder auf: «Das ist alles nicht mehr wichtig, ich bin jetzt …», doch sie schauderte auch vor diesem Wort und ersetzte es durch «… ich habe ein Kind».
Also fand sie keine Freunde unter den Kommilitonen, nahm an Gesprächen außerhalb des Studiums nicht teil, ihr täglich benutztes Vokabular beschränkte sich auf Fachjargon und die wenigen Worte, die Silas lernte. Es pendelte zwischen «Freilegeskalpell», «mikrobiellem Schädlingsbefall» und «will er nein», und ihr Lieblingswort war «Eichhörnchen». Jeden Tag, wenn sie mit Silas auf dem Heimweg durch die Kastanienallee ging, schauten sie nach den kleinen flinken Tierchen in den Bäumen, und sie wartete auf sein begeistertes: «Eischschnschn!»
Der Zustand wurde quälend, sie beschloss, ihn zu beenden, und nahm sich vor, nichts mehr zu kritisieren und stattdessen jeden Tag mindestens einmal zu irgendeinem eine freundliche Bemerkung zu machen. Ihre Isolation wurde daraufhin tatsächlich kurz unterbrochen, weil ausgerechnet sie einen der wenigen Männer eroberte, und auch noch den umschwärmten Oliver, was sie unter den Studienkolleginnen nicht beliebter machte. Es war allerdings ein Versehen, sie wollte im Seminar über Pigmente nur ihre tägliche Portion Freundlichkeit aufsagen. Sie sprachen über die «Ultramarinkrankheit» mittelalterlicher Marienmäntel. Das aus Lapislazuli hergestellte Pigment ist Veränderungen in den ultramarinhaltigen Farbschichten ausgesetzt, lernten sie, es erkrankt, Marias Mantel erblasst, erbleicht, vergraut, und man weiß nicht genau, warum. Sind es säurehaltige Substanzen, die das Metallgitter der Moleküle verändern? Oder verursachen Risse im Bindemittel eine nur scheinbare Entfärbung? Selina war fasziniert.
Es ist blau, dachte sie, Maria, dein Mantel ist blau, unter Gittern oder Rissen lapislazuliblau, es ist nur eine Täuschung aus Gittern oder Rissen, was dich in diesen weißlich grauen Stoff hüllt, jenseits der Täuschung ist dein Mantel blau, man möchte glauben, dass es einen verborgenen Himmel gibt, ultramarin und krank.
Der Gedanke machte sie einen Augenblick glücklich, und da sie sich vorgenommen hatte, jeden Tag etwas Nettes zu sagen, tat sie es jetzt. Sie hob den Kopf, suchte nach einem geeigneten Objekt, kreuzte Olivers Blick und sagte: «Deine Augen haben keine Ultramarinkrankheit, definitiv nicht!»
Es sollte nur nett sein, kein Flirt, aber es war ein unvermuteter Treffer. Oliver zuckte zusammen, kein Lächeln, kein verlegenes Grinsen, kleine Brillengläser übertrieben das Mittelmeerblau seiner Augen, die dunkler zu werden schienen, wie Marias Mantel heller geworden war.
Sie haben eine andere Krankheit, dachte Selina erschrocken. Habe ich ihn angesteckt mit Dunkelheit? Das habe ich nicht gewollt.
Mit einem traurigen Zucken der Mundwinkel wiederholte er, was der Dozent gerade erklärt hatte: «Sar-e-Sang, das liegt im Norden Afghanistans, nirgendwo auf dieser Erde gibt es so reinen Lapislazuli wie in Sar-e-Sang.»
Er blieb den ganzen Tag in ihrer Nähe, verfolgte sie zur Mensa, wollte sie unbedingt nach Hause bringen, ließ sich durch den Weg zur Kita nicht abschrecken, konnte besser als Selina «Eischschnschn» nachsprechen, ging dann grußlos, war am nächsten Tag wieder da, und erst eine Woche später erzählte er ihr: Die Augen habe er von seinem Vater geerbt, aber nur die Augen, er sei Pazifist, ganz und total, sein dummer Vater aber Offizier, und er sei zurückgekehrt aus dem Land des reinsten Lapislazuli mit allerlei Krankheiten, vor allem psychischen, aber nicht mit dieser Ultramarinkrankheit, seine Augen seien nicht ausgeblichen, die seien jetzt schwarz.
Sie blieben zusammen, ein paar Monate nur, dann schloss Selina das Bachelor-Studium als Jahrgangsbeste ab und Oliver schenkte ihr ein Poster mit einem Foto von Beuys’ Zinkkiste. Beuys hatte das Zinkblech mit einer schwefelhaltigen Paste angestrichen, die mit dem Metall keine feste Verbindung einging und sich als gesamte Schicht davon löste. Oliver hatte das Poster herstellen lassen, das Bild stammte aus einem Lehrbuch für Restauratoren zum Thema «Vergänglichkeit des Materials», in dem auch die Ultramarinkrankheit behandelt wurde.
«Du willst mir wohl andeuten, dass wir aus widersprüchlichen Materialien sind, die keine feste Verbindung eingehen können», sagte sie abweisend. Sie nahm das Bild zum Anlass, um die Beziehung zu beenden. Der wirkliche Grund war: Vor ein paar Tagen hatte sie Geburtstag gehabt, Oliver wusste es nicht, sie hatte eine E-Mail von Niklas erwartet und damit das flirrende Gefühl, das nur er in ihr auslöste. Es war keine gekommen, auch nicht von Laura.
Aber Silas hatte nun ein Engelsgesicht, umgeben von goldenen Locken, und sie überlegte, ob eine Schwangerschaft nicht doch auch einmal zehn Monate dauern und eine Menstruation überspringen könnte. Zugleich verstand sie erstmalig, warum barocke Gemälde in diese protzigen schnörkeligen Goldrahmen gesetzt wurden. Das war nichts als ein misslungener Versuch, das Gesicht ihres Sohnes Jahrhunderte vorherzuahnen, mit Silas’ Gesicht war die wirkliche Schönheit im Goldrahmen gelungen.
Es ist der Sieg der Liebe, dachte sie, meiner Liebe, denn von uns dreien bin ich die Einzige, die geliebt hat, nein,