Irene hatte aus einem Hotel das Zimmerschild mitgenommen, jene kleine Papptafel, die man in Türklinke oder -knauf einhängen kann, auf der einen Seite steht grün «Jetzt aufräumen» und auf der anderen rot «Bitte nicht stören». Meist hing das Schild, die grüne Seite sichtbar, an ihrer Klinke oder lag in wechselnden Farben auf dem Boden, weil es immer, wenn sie die Tür von innen öffnete, herunterfiel. Wenn es aber an dem dafür in die Tür geschlagenen Nagel auf Augenhöhe unübersehbar rot jeden abwies, fehlte mit Sicherheit Stefan in der Wohnung. Oder – selten – Niklas. Der saß dann stattdessen in der Küche mit offener Tür und Blick auf das Zimmerschild, trank den billigen italienischen Rotwein von Norma, und seine Augen pendelten wie eine alte Uhr, nur sehr viel langsamer, von Schild zu Weinglas, von Rot zu Rot. Wenn Selina vorbeiging, sofern sie in der Wohnung war, tat sie das immer, würgte er eine hilflose, weindurchtränkte Silbenfolge, die sie begierig als ihren Namen verstand.
So saßen sie dann in der Küche und durchlitten gemeinsam dieselben Qualen, nur dass Niklas Rot sah, das Schild an der Tür, den Wein in seinem Glas, Selina aber das dunkle Braun seiner Augen, das dem ihrer eigenen so sehr glich, als seien sie Geschwister, freilich nur Augengeschwister, denn mit der Fülle seiner dunkelblonden Locken konnten ihre farblos bräunlichen langen Strähnen nicht mithalten. So sezierten sie ihre Herzen, hielten den Atem an und stießen ihn in kleinen Seufzern wieder aus, weitgehend gleichzeitig. Selina fand den Rhythmus und fügte sich ein, aber während sie wusste, was ihn quälte, hatte er von ihren Empfindungen nicht einmal eine Ahnung. In ihr drehte sich vom Kopf bis zu den Hüften ein schlanker, mehr röhren- als trichterförmiger Wirbelsturm, in dessen Zentrum die klassische Stille im Auge des Hurrikans ruhte. In tiefem, wohlig geborgenem Frieden erreichte ihren Kopf nur ein einziger Gedanke: Wie er sie liebt! Oh, wie er lieben kann! Wie sehr!
Wenn aber dann durch die rot versperrte Tür jener kleine kurze scharfe Schrei drang, zuckte Niklas’ ganzer Körper zusammen, und während Selinas Augen trocken zwinkerten, flossen aus seinen Tränen, die er weder durch Abwenden des Kopfes noch durch Vorhalten einer Hand zu verbergen suchte. Unter dem Vorwand einer tröstenden Geste berührte Selina mit zwei Fingerspitzen seine Hand, die das Weinglas umklammerte. Sie verharrten in stummer, still leidender Gemeinsamkeit, die Selina als atemberaubend, intensiv, innig, als eine intime Nähe erlebte, zu der ihr zumindest in diesem Augenblick keine Steigerung einfiel. Sie verlor jedes Zeitgefühl, es konnten Minuten oder Stunden so vergehen, gern auch ihr ganzes Leben, aber wahrscheinlich waren diese Szenen immer nur kurz, denn für Stefan und Irene war alles meist schnell erledigt, und sobald erste Geräusche aus dem Zimmer drangen, sprang Niklas auf, stürzte den Rest Rotwein in seine Kehle und verschwand leicht taumelnd in seinem Zimmer. Ob er die Trennung von Selinas Fingerspitzen bemerkte, blieb ebenso offen wie die Frage, ob er die Berührung überhaupt wahrgenommen hatte. Selina leckte die Fingerkuppen wie eine offene Wunde und huschte in ihr Zimmer. Da saß sie auf ihrem Bett, ihr war schwindlig, weil die Drehbewegung des Hurrikans ihre äußeren Hautschichten erreichte und sich gegen die Rotation der Erde zu stemmen schien. Sie spürte, wie sie von außen nach innen langsam erkaltete, und wusste: So fühlt sich ein Klumpen Lava, den der Vulkan gnadenlos ausgespuckt hat!
Selinas Studium war ein verlorener Kampf gegen die sich stets wiederholende Erkenntnis, dass an ihren Arbeiten außer der Perfektion nichts perfekt war. Die mangelnde künstlerische Begabung durch Fleiß zu ersetzen brachte mehr Frust als Befriedigung. Freudlos sammelte sie gute Zensuren in allen theoretischen Fächern und blickte voller Neid auf die gerade noch passablen Noten, die ihre fünf WG-Partner in diesen Seminaren nachlässig abhakten. Alle ihre Erfolge hatten den Charme von Trostpreisen, die nicht trösteten, und ein gelegentliches: «He, das ist doch super! Ich wünschte, ich hätte das!» von Leon oder Irene half ihr so wenig wie Stefans spöttisches «Also intelligent bist du!». Gut benotete mindere Fähigkeiten – Selina hätte sie aufs Spiel gesetzt, aber an allem Spielerischen konnte sie ja nicht teilnehmen, das war das Metier der anderen, und als André sie in seine Sprechstunde orderte, war ihr klar, dass er ihr nicht eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft anbieten wollte.
«Gib’s auf!», riet er ihr und versuchte einen väterlichen Tonfall, der ihm natürlich nicht gelang und unter der antrainierten Jugendlichkeit nur als ältlich großväterlich durchklang. «Wechsel’ zu Kunstgeschichte, du könntest promovieren und ein Museum leiten, aber damit würdest du deine andere Begabung verschwenden. Mach’ Restauration, ich sehe dich in italienischen Kirchen Fresken restaurieren, das wär’s. Ich schreib dir ein bestes Gutachten für beides. Dann kannst du vielleicht das Grundstudium überspringen.»
Selina wehrte sich trotzig.
Und wahrscheinlich hätte sie noch jahrelang ihr Scheitern inszeniert, wenn sie nicht einige Monate später die WG hätte verlassen müssen, weil sie schwanger war.
minus zwei
Fußgelenk
Irene war ausgezogen. Sehr plötzlich. Ohne erkennbaren Grund und ohne zu sagen, wohin sie ging. Sie beantwortete weder E-Mails noch WhatsApps und war nach ein paar Wochen unter ihrer Handynummer gar nicht mehr zu erreichen. Es wurde heftig darüber diskutiert, vor allem von Laura und Leon, Stefan machte hin und wieder eine zynische Bemerkung, Niklas schwieg und litt, und erst als Selina selber ging, überlegte sie, ob Irene wohl dasselbe Problem gehabt hatte, aber sie verwarf den Gedanken.
Irenes Zimmer blieb leer, sie konnten die Miete auch zu fünft bezahlen und brauchten kein neues WG-Mitglied, Laura und Leon vermissten Irene nicht, Stefan konnte sie leicht auswärts ersetzen und Niklas sowieso nicht. Nach ein paar Wochen mit nur zwei Frauen in der Wohnung, von denen eine für ihn tabu war, schien Stefan die Situation doch recht unpraktisch zu finden und gab Selina zu verstehen, dass sie Irenes Erbe antreten möge. Er kam mit zwei Gläsern und einer Flasche Rotwein in ihr Zimmer – es war der gleiche billige Normawein, den Niklas immer in der Küche getrunken hatte –, stellte alles auf ihren Schreibtisch, legte das Hotelschild daneben und sagte: «Guck mal, das hat sie dagelassen.»
«Komisch», sagte Selina, «das braucht sie doch.»
Stefan zuckte die Achseln.
«Soll ich es an deine Tür hängen?», fragte er. «Ich meine, mit der roten Seite nach außen?»
«Ich hab da keinen Nagel auf Augenhöhe.»
«Kann ich einschlagen», bot er an.
«Ich lass mich nicht von dir nageln», sagte sie.
Aber sie warf ihn nicht hinaus, und sie tranken den Wein.
«Ich weiß, dass du in Niklas verliebt bist», sagte Stefan, und während sie entschieden leugnete, bewunderte sie wieder seine klare, genaue Beobachtungsgabe und dachte: Warum eigentlich nicht? Ich hab doch keinen anderen, ist schon so lange her, wär doch mal wieder schön …
Und während Stefan das Schild – rot abweisend – an ihre Türklinke hängte, überfiel sie ein kleines, böses Gefühl, eine Art Rache an Niklas für ihre einsame Gemeinsamkeit in der Küche, für die unsinnige Innigkeit, die zerrissene Zärtlichkeit, für ihr lustvolles, frustvolles Ertrinken im gleichen billigen Wein.
Stefan überraschte Selina noch einmal. Mit Niklas in der Küche sitzend hatte sie ihn sich ganz anders vorgestellt. Er wiederholte mehrmals mit stammelnden Fingern und weicher Stimme «Ich liebe dich!», das klang nicht einmal wie eine Lüge, denn es gab nicht vor, eine Wahrheit zu sein, sie nahm es dankbar entgegen, es half ihr sehr.
Sie trug in jenem Sommer ein Fußkettchen aus Halbedelsteinen. Malachit und Obsidian, Mondstein, Opal und immer wieder Rosenquarz begleiteten jeden ihrer Schritte mit einem kühlen glatten Hüpfen am Fußgelenk, und regelmäßig wie ein Refrain wiederholte sich in der Runde die wärmere Berührung ovaler Bernsteinperlen; nur wenn sie lange in der Sonne lag, kippte das Wechselspiel in sein Gegenteil, die Steine nahmen mehr Hitze auf als das erhärtete Harz, das sich wenig veränderte und das sie darum «mein Freund» nannte, «mein Beständiger». Manchmal jedoch fühlte es sich unvermittelt wie Plastik an, billig und chemisch, künstlich und nachgemacht.
Stefan