1.4.4. Aktive Arbeitsmarktpolitik
Die aktive Arbeitsmarktpolitik stellt ein relativ spät eingeführtes Politikfeld dar. Die Übereinstimmung darüber, dass staatliche Politik zur Steuerung des Arbeitsmarktes beitragen sollte, zeigte sich seit den 1950er Jahren im breiten Konsens über das Ziel der Sicherung der Vollbeschäftigung. Vor dem Hintergrund der weitgehenden Ausschöpfung des Arbeitskräftepotenzials in den 1960er Jahren kam es zur Verabschiedung von zwei einschlägigen Gesetzen: 1968 des Arbeitsmarktförderungsgesetzes und 1969 des Berufsausbildungsgesetzes. Mit der aktiven Arbeitsmarktpolitik als Ergänzung zu den traditionellen Steuerungsinstrumenten der Budgetund Wirtschaftspolitik sollte ein doppeltes Ziel erreicht werden, „nämlich den einzelnen zu unterstützen und das Wirtschaftswachstum zu fördern“ (Arbeitsmarktpolitisches Konzept 1978, 12). Der Erreichung dieses Zieles dienten die Information über den Arbeitsmarkt, die finanzielle Förderung der Um-, Nach- und Weiterschulung und der Lehrberufsausbildung, Beihilfen zur Förderung der Mobilität und finanzielle Maßnahmen zur Beschaffung von Arbeitsplätzen. In den Jahren der Vollbeschäftigung bildete vorerst die Anpassung der Arbeitslosen an die Arbeitskräftenachfrage und deren Mobilisierung den diesbezüglichen Schwerpunkt.
Unter den veränderten Arbeitsmarktbedingungen ab Mitte der 1970er Jahre und insbesondere im Kontext steigender Arbeitslosigkeit ab den 1980er Jahren erfuhr die aktive Arbeitsmarktpolitik eine beträchtliche Ausweitung (siehe Aktive Arbeitsmarktpolitik 2012; Lechner u.a. 2017, 11; Atzmüller 2009; Tálos 1987, 151 ff.; Rathgeb 2018). Diese reichte von einer Verstärkung der Arbeitsmarktinformation und des Arbeitsmarktservices über die Ausweitung der Förderinstrumente (z.B. Darlehen, Zinszuschüsse) hin zu Maßnahmen zugunsten spezifischer „Problemgruppen“ auf dem Arbeitsmarkt. Mit der 9. Novelle des Arbeitsmarktförderungsgesetzes im Jahr 1983 wurde die Basis für die darauf bezogene experimentelle Arbeitsmarktpolitik geschaffen. Zu deren Kernelementen zählen die Fördermöglichkeit für Selbstverwaltete Betriebe, für auf Selbsthilfe gegründete und auf Gemeinnützigkeit gerichtete Einrichtungen, für Einrichtungen oder Personen, die arbeitsmarktpolitische Entwicklungsarbeit, Beratung und Betreuung leisten. Eines der bekanntesten Instrumente stellte die arbeitsbeschaffende Maßnahme für Langzeitarbeitslose im Rahmen der Aktion 8.000 dar, die per Erlass vom 30.11.1983 eingeführt wurde. Weiters sei auf Umschulungsund Qualifizierungsmaßnahmen im Rahmen des Frauenförderungs- und Jugendbeschäftigungsprogramms verwiesen (siehe Tálos/Kittel 2001, 136 ff.).
Das für aktive Arbeitsmarktpolitik in Österreich verausgabte Finanzierungsvolumen hat mit dem Ende der Vollbeschäftigungssituation und dem Anstieg der Arbeitslosigkeit in den Bereichen Arbeitsmarktservice, Förderung der beruflichen Mobilität, Arbeitsbeschaffung, Lehrausbildung und Berufsvorbereitung eine beträchtliche Ausweitung erfahren. Vielfach erfolgte eine Verdoppelung der Ausgaben (Tálos 1987, 152).
1.4.5. Familienrelevante Leistungen
Der in den Nachkriegsjahrzehnten beträchtlich ausgeweitete Komplex familienrelevanter Leistungen (Wrohlich 2003; Mayrbäurl 2004) beinhaltet eine große Palette von Förderungen, reichend von der Kinder- bzw. Familienbeihilfe, vom Wochen- und Karenzurlaubsgeld, von Mutterbeihilfen, von Kinderzuschüssen in der Pensionsversicherung, vom Familienzuschlag in der Arbeitslosenversicherung bzw. Familienzulagen bis hin zu steuerlichen Familienförderungen (Kinderabsetzbetrag, Alleinverdiener- und Alleinerzieherabsetzbetrag). Die österreichische Familienpolitik fokussierte damit prioritär auf Geldleistungen. Viel weniger wurde für Infrastruktur- und Sachleistungen (wie z. B. Kindergärten) aufgewendet. Die Familienförderung betrug im Jahr 2000 ca. 10% der Sozialausgaben insgesamt. Sie wird hauptsächlich vom Bund (mit ca. zwei Drittel) sowie den Ländern und den Sozialversicherungsträgern getragen (siehe z.B. Mayrbäurl 2004, 99). Für die Leistungen des Bundes stellt der 1955 eingeführte Familienlastenausgleichsfonds (FLAF) das wichtigste Instrument dar. Finanziert wird dieser zu mehr als zwei Dritteln aus Dienstgeberbeiträgen. Diese betrugen 4,5% der Bruttolohnsumme (in den 1990er Jahren).
1.4.6. Versorgungssysteme
Vom System der Sozialversicherung mit seiner Orientierung an Erwerbstätigen (und deren Familien), der Finanzierung in erster Linie aus Beiträgen und der Organisation in Form der Selbstverwaltung unterscheiden sich die in der Zweiten Republik nach Vorbild des Invalidenentschädigungs gesetzes von 1919 etablierten Versorgungssysteme in mehrfacher Hinsicht: Sie werden in Staatsverwaltung geführt, aus öffentlichen Mitteln finanziert und sind auf österreichische Staatsbürger beschränkt. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Kriegsopferversorgung, die Heeresversorgung, die Opferfürsorge und die Versorgung von Verbrechensopfern (siehe dazu 60 Jahre Kriegsopferversorgung in Österreich, 1979; Tomandl 1979, 2019; Kern 2008; Sozialstaat Österreich 2018; Sozialleistungen im Überblick 2019).
Die lange Zeit bedeutendste Versorgungsleistung stellt die Kriegsopferversorgung dar. Diese bezieht sich auf Gesundheitsschädigungen, die Österreicher/innen als Folge der Kriegsdienstleistung oder der militärischen Besetzung Österreichs erlitten, und auf die daraus resultierende Minderung der Erwerbsfähigkeit. Die Leistungen umfassen eine Beschädigtenrente und Zulagen. Die Beschädigtenrente ist einkommensunabhängig. Ihre Höhe hängt vom Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit und dem Alter ab. Darüber hinaus sind für Schwer- und Schwerstbeschädigte diverse Zulagen und Beihilfen (z.B. Pflege-, Alters- und Erschwerniszulage) vorgesehen. Im Fall der Zulagen werden das Einkommen des Betroffenen und ein Teil des Einkommens des Partners/der Partnerin angerechnet. Die Kriegsopferversorgung sieht zudem Hinterbliebenenleistungen (Witwen- und Waisenrente, Sterbegeld, Elternteilrente) vor. Von der Kriegsopferversorgung und den damit eng verbundenen Wiedereingliederungsmaßnahmen (Invalideneinstellungsgesetz 1946) für Kriegsgeschädigte (z. B. Beschäftigungsquoten) gingen wichtige Impulse für die Langzeitpflege (Pflegegeld) und die moderne Behindertenpolitik aus (Obinger/Grawe 2020).
Die besondere Bedeutung der Kriegsopferversorgung zeigte sich nicht nur am anfänglichen Mittelaufwand (1950: 40% der Sozialausgaben des Bundes), sondern auch an der großen Zahl von Leistungsempfänger/innen: 1950 bezogen 510.474 Personen oder fast acht Prozent der Bevölkerung entsprechende Leistungen. In den nachfolgenden Jahrzehnten reduzierte sich diese Zahl durch Tod der Empfänger oder Verlust der Anspruchsberechtigung (Waisen) deutlich (1979: 201.560) (Bundesministerium für Soziale Verwaltung 1979, 47). Mit Stand Jänner 2019 gab es 2.348 Bezieher/innen einer Beschädigtenrente.
Ziel der Leistung der Heeresversorgung (seit 2015 Heeresentschädigung) ist es, Gesundheitsschädigungen auszugleichen, die Staatsbürger in Erfüllung ihrer Wehrpflicht oder als freiwillige Präsenzdiener, als Zeitsoldaten oder im Milizdienst erlitten haben. Die Leistungen umfassen Renten (bei mindestens 25% Minderung der Erwerbsfähigkeit) und eine Palette einkommensunabhängiger Zusatzleistungen sowie Hinterbliebenenrenten. Am Stichtag 1. Jänner 2017 betrug die Zahl der Versorgungsberechtigten 1.808 Personen (siehe Sozialstaat Österreich 2018).
Eine Ergänzung des Spektrums der Leistungen des Versorgungssystems brachte die 1972 eingeführte Versorgung von Verbrechensopfern (Verbrechensopferentschädigung). Damit ist Opfern von Verbrechen (und ihren Hinterbliebenen) ein eigener Versorgungsanspruch eingeräumt, der sowohl auf Gesundheitsschädigungen als auch (einkommensproportional) auf Einkommensausfälle bezogen ist. Als Leistungen sind sowohl der Ersatz des Verdienst- und Unterhaltsentganges, die Heilfürsorge als auch Rehabilitationsmaßnahmen vorgesehen. Im Jänner 2019 gab es 204 Leistungsbezieher/innen.
Das Ziel des 1945 provisorisch und 1947 neu geregelten Opferfürsorgegesetzes sind die Entschädigungen für Personen, die im Zweiten Weltkrieg beim Kampf für ein freies, demokratisches Österreich Schaden genommen haben oder in der Zeit vom 6. März 1933 bis zum 9. Mai 1945 politisch verfolgt worden waren. Die Leistungen bestehen neben diversen Begünstigungen in einer Opferrente, die für verfolgungsbedingte Gesundheitsschäden gebührt, und eine Unterhaltsrente, die der Sicherung des Lebensunterhalts dient und einkommensabhängig ist. Darüber hinaus sind ebenso wie bei den anderen Leistungen Hinterbliebenenversorgungsleistungen vorgesehen. Im Jänner 2019 bezogen 917 Personen derartige Leistungen (Sozialleistungen im Überblick 2019).
1.5. Sozialstaat für alle: Der Versichertenkreis wird größer