Von vornherein auf falschem Wege befindet sich, wer im Materialismus eine einheitliche Idee, in seiner Geschichte eine rein immanente gedankliche Entwicklung erblickt45. Sieht man von gewissen formalen Zügen ab, die aller materialistischen Philosophie eigentümlich sind, so zeigt es sich, daß der Materialismus in seiner Methode, seinem spezifischen Interesse, überhaupt in seinen inhaltlichen Merkmalen gesellschaftlich-historisch wandelbar ist. Was in einem Jahrhundert von höchster Wichtigkeit für ihn ist, kann sich im darauffolgenden als nebensächlich erweisen. Stets aber ist er, wie alle Philosophie, ein gedanklicher Aspekt des Lebensprozesses der Menschen: »Derselbe Geist baut die philosophischen Systeme in dem Hirn der Philosophen, der die Eisenbahnen mit den Händen der Gewerke baut. Die Philosophie steht nicht außer der Welt, so wenig das Gehirn außer dem Menschen steht, weil es nicht im Magen liegt; aber freilich die Philosophie steht früher mit dem Hirn in der Welt, ehe sie mit den Füßen sich auf den Boden stellt, während manche andere menschliche Sphären längst mit den Füßen in der Erde wurzeln und mit den Händen die Früchte der Welt abpflücken, ehe sie ahnen, daß auch der ›Kopf‹ von dieser Welt oder diese Welt die Welt des Kopfes sei.«46
Steht für den Materialismus der bürgerlichen Aufklärung des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts die Materie in ihrer physikalischen oder physiologischen Bestimmtheit im Mittelpunkt, so muß sie bei einer Gestalt des Materialismus, dessen wesentlicher Inhalt in der Kritik der politischen Ökonomie besteht, im weitesten Sinne als gesellschaftliche Kategorie auftreten. Die metaphysischen und naturwissenschaftlichen Sätze, namentlich die der Mechanik, auf denen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der gesamte vormarxsche Materialismus fußt, beruhen gar nicht auf ursprünglichen Fragestellungen, sondern sind etwas durchaus Abgeleitetes. Schon in seinem philosophiehistorischen Exkurs in der »Heiligen Familie« zeigt Marx, wie sehr der physikalische Materialismus in der Richtung seines Interesses wie in seinen dogmatischen Aussagen über die Wirklichkeit an historisch begrenzte Probleme der gesellschaftlichen Emanzipation des Bürgertums gebunden ist. Dementsprechend treten bei Marx die traditionellen Gegenstände des Materialismus in dem Maße zurück, in dem er sie in ihrer gesellschaftlichen Funktion wie Genesis begreift. Was zu den ABC-Thesen eines jeden Materialismus gehört, hat auch bei ihm seinen Ort, freilich nicht als isolierte Behauptung, sondern wesentlich als etwas in der dialektischen Theorie der Gesellschaft Aufgehobenes und erst von ihr aus ganz zu Verstehendes. Das »Kapital« kritisiert am seitherigen Materialismus ausdrücklich den Umstand, daß ihm die Beziehung seiner Formulierungen zum geschichtlichen Prozeß entgeht: »Die Mängel des abstrakt naturwissenschaftlichen Materialismus, der den geschichtlichen Prozeß ausschließt, ersieht man schon aus den abstrakten und ideologischen Vorstellungen seiner Wortführer, sobald sie sich über ihre Spezialität hinauswagen.«47
In geradezu klassischer Weise zeigt die Marxsche Polemik gegen Feuerbach in der »Deutschen Ideologie«, wie die Naturwissenschaften, eine Hauptquelle materialistischer Aussagen, gar kein unmittelbares Bewußtsein der natürlichen Wirklichkeit liefern, weil das menschliche Verhältnis zu dieser nicht primär ein theoretisches, sondern ein praktischumgestaltendes ist. Ihrem Blickfeld, ihrer Methodik, ja, dem Inhalt dessen nach, was jeweils Materie heißt, sind die Naturwissenschaften gesellschaftlich determiniert. Die erwähnte Polemik gegen Feuerbach, die im Zusammenhang mit den zur gleichen Zeit verfaßten »Thesen« verstanden werden muß, steht ganz im Zeichen des bereits behandelten Marxschen Übergangs vom »anschauenden« zum »neuen«, das heißt dialektischen Materialismus. Marx zeigt, daß die Feuerbachschen Aussagen über Natur keine letzten Befunde darstellen, sondern so hochgradig vermittelt sind wie die Natur selbst: »Feuerbach spricht namentlich von der Anschauung der Naturwissenschaft, er erwähnt Geheimnisse, die nur dem Auge des Physikers und Chemikers offenbar werden; aber wo wäre ohne Industrie und Handel die Naturwissenschaft? ... Selbst die Gegenstände der einfachsten sinnlichen Gewißheit« sind ihm nur durch die gesellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den kommerziellen Verkehr gegeben ... Selbst diese ›reine‹ Naturwissenschaft erhält ja ihren Zweck sowohl wie ihr Material erst durch Handel und Industrie, durch sinnliche Tätigkeit der Menschen. So sehr ist diese Tätigkeit, dieses fortwährende sinnliche Arbeiten und Schaffen, diese Produktion die Grundlage der ganzen sinnlichen Welt, wie sie jetzt existiert, daß, wenn sie auch nur für ein Jahr unterbrochen würde, Feuerbach eine ungeheuere Veränderung nicht nur in der natürlichen Welt vorfinden, sondern auch die ganze Menschenwelt und sein eignes Anschauungsvermögen, ja seine eigne Existenz sehr bald vermissen würde.«48
Zwar ist für Marx die sinnliche Welt nicht »ein unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding, sondern das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes«49, aber diese gesellschaftlich vermittelte Welt bleibt zugleich eine natürliche, die geschichtlich jeder menschlichen Gesellschaft vorausliegt. Bei aller Anerkennung des gesellschaftlichen Moments »bleibt ... die Priorität der äußeren Natur bestehen und allerdings hat dies alles keine Anwendung auf die ursprünglichen, durch generatio aequivoca erzeugten Menschen; aber diese Unterscheidung (von vorgesellschaftlicher und gesellschaftlich vermittelter Natur, A. S.) hat nur insofern Sinn, als man den Menschen als von der Natur unterschieden betrachtet. Übrigens ist diese der menschlichen Geschichte vorhergehende Natur ja nicht die Natur, in der Feuerbach lebt, nicht die Natur, die heutzutage, ausgenommen etwa auf einzelnen australischen Koralleninseln neueren Ursprungs, nirgends mehr existiert, also auch für Feuerbach nicht existiert.«50 Daß hier Marx gegenüber dem gesellschaftlichen Vermittlungsfaktor die Priorität der äußeren Natur und damit ihrer Gesetze festhält, ist erkenntnistheoretisch sehr wichtig und an späterer Stelle ausführlich zu diskutieren.
Nicht nur weil die arbeitenden Subjekte das Naturmaterial mit sich vermitteln, läßt sich von diesem nicht als von einem obersten Seinsprinzip sprechen. Die Menschen haben es ja nie mit Materie »als solcher« bei ihrer Produktion zu tun, sondern stets nur mit ihren konkreten, quantitativ und qualitativ bestimmten Daseinsweisen. Ihr Allgemeines, die Unabhängigkeit vom Bewußtsein, existiert nur im Besonderen. Es gibt keine Urmaterie, keinen Urgrund des Seienden. Nicht nur wegen ihrer Relativität auf Menschen, in ihrem »Sein für anderes«, sondern ebensowenig in ihrem »Sein an sich« taugt die materielle Wirklichkeit zu einem ontologischen Prinzip. Der dialektische Materialismus kann mit noch geringerem Recht als der dialektische Idealismus Hegels eine »Ursprungsphilosophie« genannt werden. Es gibt keine selbständige Substanz, die unabhängig von ihren konkreten Bestimmtheiten existieren könnte. Engels spricht sich über den Materiebegriff in den »Noten zum Anti-Dühring« folgendermaßen aus: »NB Die Materie als solche ist eine reine Gedankenschöpfung und Abstraktion. Wir sehen von den qualitativen Verschiedenheiten der Dinge ab, indem wir sie als körperlich existierende unter dem Begriff Materie zusammenfassen. Materie als solche, im Unterschied von den bestimmten, existierenden Materien, ist also nichts Sinnlich-Existierendes.«51
Noch einmal geht er auf die Frage der Materie in der »Dialektik der Natur« ein: »Die Materie und Bewegung kann ... gar nicht anders erkannt werden als durch Untersuchung der einzelnen Stoffe und Bewegungsformen, und indem wir diese erkennen, erkennen wir pro tanto auch die Materie und Bewegung als solche.«52
Neuere Versuche einer Systematisierung des dialektischen Materialismus verzichten ebenso ausdrücklich auf den Begriff der Materie als eines substantiellen »Trägers« sekundärer Akzidentien. Wie der Geist, so ist auch die Materie kein absolut »fundamentales«, kein einheitliches Erklärungsprinzip der Welt: »Im Gegensatz zum metaphysischen Materialismus verwirft der dialektische Materialismus die Vorstellung von einem ›letzten‹, unveränderlichen Wesen der Dinge‹, von einer ›absoluten Grundsubstanz‹, auf deren ›endgültige‹ Eigenschaften und Erscheinungen sich alles Existierende zurückführen lasse. In der Natur gibt es nichts Unveränderliches und keine absolute Grundsubstanz.«53
Sosehr diese dialektische Fassung des Materiebegriffs beweist, daß Engels und die sich an ihn anschließende heutige Philosophie in Rußland der Gefahr einer Ontologie sich bewußt sind und ihr entgehen möchten, sowenig kann das gelingen, wenn sie mit dem Begriff Materie die Entstehung des Universums überhaupt verständlich machen wollen. Wo immer Materie zur umfassend-metaphysischen Welterklärung herangezogen wird, geht man von ihr, ob man will oder nicht, als von