KARL MAY
IM ZEICHEN DES DRACHEN
REISEERZÄHLUNG
Aus
KARL MAYS
GESAMMELTE WERKE
BAND 11
„AM STILLEN OZEAN“
© Karl-May-Verlag
eISBN 978-3-7802-1306-8
Die Erzählung spielt Anfang der 60er-Jahre des 19. Jahrhunderts.
KARL-MAY-VERLAG
BAMBERG • RADEBEUL
Inhalt
1. Auf der ,Maatepockeninsel‘
4. Eine ergebnisreiche Gämsenjagd
6. Chinesische und europäische Musik
10. Bei einem chinesischen Großen
11. Im ,Erker der Drachenschlucht‘
12. Gefährliche Bekanntschaften
IM ZEICHEN DES DRACHEN
1. Auf der ,Maatepockeninsel‘
Ein heiterer, wolkenloser Himmel breitete sich über uns aus, aber das strahlende Licht der Sonne vermochte die finsteren Schatten nicht zu verscheuchen, die auf den Zügen der wackeren Seeleute lagen. Missmutig saßen sie mit mir rings um das lodernde Feuer, an dem wir unser Mittagsmahl bereiteten.
Vor uns dehnte sich der niedrige Strand, von drei scharfen, gefährlichen Korallenringen umgeben, außerhalb deren die See ihre weiten, glänzenden Wogen wälzte. Zwischen ihnen und der Küste ruhte das Wasser so unbewegt, als hätte nie ein Sturm in diesen sonnendurchglühten Breiten getobt. Hinter uns stieg das Land zur Höhe, hier und da von grünen Eukalyptussträuchern, dichten Melaleuzeen1 und Gruppen von Kallitriskoniferen bestanden, unter und zwischen denen zahlreiche Akazien- und andere feinstielige Leguminosenarten eine dichte Bodenbekleidung bildeten. Auf dem höchsten Punkt der Insel stand Bob, der Zimmermann, denn an ihm war die Reihe, mit dem Fernrohr unausgesetzt den Gesichtskreis abzusuchen nach irgendeiner Art von Segel, das uns Befreiung aus unserer beklemmenden Lage bringen könnte.
Wir hatten mit unserem guten Dreimaster ,Poseidon‘ vor nunmehr sechs Wochen Valparaiso verlassen, um nach Hongkong zu segeln, in kurzer Zeit die viel befahrenen Linien nach Callao, Guayaquil, Panama und Acapulco durchschnitten und waren dann in schneller, glücklicher Fahrt vor einem steifen Südostpassat immer scharf nach Westen gegangen. Ungefähr auf der Höhe von Ducir und Elisabeth schlug der Passat in einen Orkan um, wie ich ihn von solcher Stärke und Unwiderstehlichkeit während meiner vielen Fahrten noch niemals erlebt hatte.
Wir waren gezwungen gewesen, alle Leinwand außer dem Sturmsegel einzuziehen, und dennoch hatte der ,Poseidon‘ einen Spielball der empörten Wogen gebildet, den keine menschliche Einsicht, Kraft und Geschicklichkeit zu lenken vermochte. Jetzt lag unser Dreimaster gestrandet draußen zwischen den verräterischen Korallenklippen. Der Kutter war über Bord gerissen worden, die Schaluppe hatte bei unserer Landung ein unheilbares Leck bekommen und das Langboot steckte auf einem spitzen, haarscharfen Riff, das sich wie ein malaiischer Dolch in seinen Bug gebohrt hatte.
Die Brandung riss Planke um Planke von dem Schiff, das unrettbar war, und wir hatten zwei Tage lang unter Anstrengung aller Kräfte arbeiten müssen, um wenigstens von der Fracht und den Lebensmitteln so viel zu bergen, wie wir der gefräßigen See zu entreißen vermochten.
Nun war es mit der schweren Arbeit zu Ende und wir kauerten zwischen großen Warenballen und Fässern um das Feuer und bemühten uns, einander an Düsterkeit der Mienen zu überbieten.
Seitwärts stand Kapitän Roberts und war beschäftigt, die Länge und Breite zu berechnen. Wir hatten seit früh wieder freien Himmel und es konnte ihm also jetzt, da die astronomischen und nautischen Messgeräte geborgen worden waren, nicht schwer fallen, seine Aufgabe genau zu lösen.
„Nun, Käpt’n, seid Ihr fertig?“, fragte der Steuermann, während er ein mächtiges Stück Salzfleisch vom Feuer nahm, um es auf seine Bratschärfe zu prüfen.
„Aye, aye, Maat, bin fertig“, lautete die Antwort.
„Wo sind wir?“
„Wir sitzen anderthalb Grad nördlich vom Steinbock auf dem zweihundertneununddreißigsten Grad östlich von Ferro.“
„Wollte, wir säßen daheim in Hobboken bei Mutter Grys und hätten einen festen Schemel unter uns und ein Glas Steifen vor der Nase. Was meint Ihr wohl zu dieser Insel, Käpt’n? Wird ihr Name ausfindig zu machen sein?“
Der Kapitän neigte bedenklich den Kopf.
„Hier gibt’s mehr Inseln als Pockennarben in Euerm Gesicht, und das ist viel gesagt, wie Ihr wohl wisst, Maat. Habt Ihr für jede Narbe gleich den richtigen Namen bei der Hand?“
Der Steuermann bemühte sich, die Schmeichelei, die der Vergleich für ihn enthielt, mit einem sauren Lächeln zu erwidern.
„Habe noch nie daran gedacht, die Teile meiner ehrlichen Fratze zu benamsen, Käpt’n. Aber wenn dieses unglückselige Stück Koralle hier noch keinen Namen hat, so sind wir wahrhaftig gezwungen, ihm einen zu geben. Ich schlage vor, wir heißen das Eiland Maatepockeninsel.“
Er schien seinen Witz für überaus geistreich zu halten, denn das saure Lächeln verschwand und neben dem riesigen Stück Kautabak, das er im Mund hatte, drängte sich ein kräftiges und herzliches Lachen über seine Lippen.
Die Schiffsordnung ist sehr streng und selbst der ,unbefahrenste‘ Seejunge weiß, dass alle einstimmen müssen, wenn der Kapitän oder der Maat so gnädig ist, zu lachen; nur muss der eine sich leiser und der andere lauter beteiligen, je nach dem Rang, den er auf der Schiffsliste einnimmt. Daher öffneten jetzt alle Mannen vom Hochbootsmann an bis herab zum Kajütenhelp die Lippen, um ihre Lachmuskeln pflichtschuldigst in Bewegung zu setzen. Sogar der Kapitän verzog den Mund zu einem wohlwollenden Schmunzeln und meinte dann:
„Ich denke, wir befinden uns so zwischen Holt und Miloradowitsch auf einem weit nach West vorgeschobenen Platz. Was meint Ihr, Master Charley?“
Ich war auf dem Schiff der einzige Fahrgast gewesen, mit dem sich der sonst sehr schweigsame Kapitän unterhalten hatte. Es war mir vorgekommen, als dürfte ich mich seiner Zuneigung