Drei Grundannahmen bilden den Ausgangspunkt für den Argumentationsgang des vorliegenden Buches. Sie beziehen sich sowohl auf den Wissensstand der Innovationsforschung zu den Diffusionsmechanismen neuer Technologien (vgl. z. B. Rogers 2003) als auch auf die sozialwissenschaftliche Technik- und Arbeitsforschung zur Frage nach dem Verhältnis von Technik und Arbeit (vgl. z. B. Lutz 1987; Bergmann 1989; Pfeiffer 2018). Empirisch basieren die Grundannahmen auf vorliegenden, insbesondere eigenen Forschungsergebnissen über den Wandel von Arbeit im Kontext von Digitalisierung und Industrie 4.0 im industriellen Sektor in Deutschland.
Erstens ist der Zusammenhang zwischen der Verbreitung und Nutzung digitaler Technologien und ihren sozialen Konsequenzen keinesfalls eindeutig und allein technologisch bestimmt. Vielmehr handelt es sich dabei um einen komplexen und wechselseitigen Zusammenhang, der von einer Vielzahl nicht-technischer, ökonomischer, sozialer und arbeitspolitischer Faktoren geprägt wird. Daher steht die Adaption der digitalen Technologien in Betrieben stets in enger Wechselwirkung mit je gegebenen Arbeitsprozessen und den jeweiligen betrieblichen Strukturen. Langfristig ist allerdings von einem durch digitale Technologien beeinflussten Strukturwandel von Arbeit auszugehen, der sich mit unterschiedlichen Entwicklungsszenarien beschreiben lässt.
Zweitens sind der konkrete Verlauf und die Richtung der digitalen Transformation von Arbeit Resultate betrieblicher Gestaltungsstrategien. Maßgeblich hierfür ist ein ganzes Bündel sozialer und politischer Faktoren wie etwa Entscheidungsprozesse des Managements, arbeitspolitische Verhandlungen, betriebsstrukturelle Bedingungen sowie ökonomische und gesellschaftliche Rahmenfaktoren. Es existieren ganz offensichtlich unterschiedliche Gestaltungsoptionen von Arbeit. Insbesondereeröffnet sich damit die Chance, die digitale Transformation von Arbeit human- und qualifikationsorientiert voranzutreiben. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass digitalisierte Arbeitsprozesse als sozio-technisches System begriffen werden. Die Systemelemente Arbeit, Organisation und Technologie müssen gleichermaßen Gegenstand betrieblicher Einführungsprozesse der neuen Technologien sein.
Drittens lassen sich die tatsächliche Diffusionsgeschwindigkeit und die betriebliche Adaption der neuen digitalen Technologien nur schwer einschätzen. Denn ihre Einführung ist mit vielfältigen technologischen, ökonomischen, und sozialen Grenzen konfrontiert, die oft den Charakter ungeplanter Nebenfolgen haben. Offen ist vor allem auch, ob in Zukunft Autonome Systeme, die auf der Basis von Methoden der KI ohne menschliche Eingriffe aktionsfähig werden, diese Probleme überwinden können. Die möglichen Konsequenzen dieser Entwicklung für Arbeit und Gesellschaft sind zwar Gegenstand intensiver Diskussionen, jedoch lassen sich hierzu kaum valide Prognosen formulieren.
1.5 Untersuchungsfeld, Methode und Gang der Argumentation
Der Untersuchungsfokus der vorliegenden Studie richtet sich auf den Wandel von Industriearbeit. Zugrunde gelegt wird dabei ein weites Verständnis von Industriearbeit, das alle direkt und indirekt wertschöpfenden Tätigkeiten in Industriebetrieben umfasst. Es bezieht sich damit auf die operative Ebene der Fertigungsbelegschaften sowie die Ebene der Planung, Steuerung und Kontrolle der Produktion durch das untere und mittlere Management und die Gruppe der technischen Experten.
Die folgende Analyse richtet sich primär auf innerbetriebliche und nur teilweise auch auf überbetriebliche Wandlungstendenzen der Arbeit infolge der Einführung digitaler Technologien verschiedenster Funktionszusammenhänge. Fragen nach den Konsequenzen des Wandels von Sektoren, Branchen und Standortbedingungen für Arbeit werden hingegen im gegebenen Rahmen weitgehend ausgeklammert. Einerseits umfasst die vorliegende Analyse damit nur einen Ausschnitt aus der breiten Arbeitslandschaft und den Anwendungsfeldern digitaler Technologien und kann daher kaum Aussagen über den generellen Wandel der Arbeitsgesellschaft treffen. Andererseits aber ist bekanntlich der industrielle Sektor trotz begrenzter Beschäftigungsanteile nach wie vor strukturprägend für das deutsche Wirtschaftssystem in seiner Gesamtheit, und der Wandel industrieller Arbeit hat stets auch Auswirkungen auf weitere Sektoren wie industrienahe Dienstleistungen. Daher lassen sich aus den vorliegenden Befunden durchaus auch generelle Aussagen für die Entwicklung der Arbeitslandschaft in Deutschland ableiten.
Die methodisch-empirische Basis der Argumentation setzt sich zusammen aus Informationen, die der Autor im Rahmen einer in den letzten Jahren laufenden Begleitung des Digitalisierungsdiskurses auf den unterschiedlichsten Ebenen von Politik und Unternehmen gewinnen konnte, aus den Ergebnissen einer kontinuierlichen Dokumenten- und Literaturrecherche zu Digitalisierung von Arbeit sowie aus Forschungsergebnissen einschlägiger empirischer Forschungsprojekte, die zwischen 2014 und 2019 an der TU Dortmund zum Wandel digitaler Arbeit durchgeführt wurden.7 Wenngleich diese Projekte im Einzelnen durchaus verschiedenen Fragestellungen in unterschiedlichen betrieblichen Zusammenhängen nachgehen, liegt ihnen doch eine gemeinsame Analyseperspektive im Hinblick auf Fragen nach Beschäftigungsentwicklung, Arbeits- und Betriebsorganisation, Mensch-Maschine-Interaktion sowie Kompetenz- und Qualifikationsentwicklung zugrunde. Methodisch handelt es sich bei allen Forschungsprojekten um qualitative Erhebungen, d. h. um Experteninterviews und Betriebsfallstudien in unterschiedlichen Betrieben und Branchen des Verarbeitenden Gewerbes.
Im Einzelnen wurden die Untersuchungen im Rahmen von zwei Projekten der Grundlagenforschung sowie im Kontext von drei anwendungsorientierten Forschungsprojekten durchgeführt. Das untersuchte Sample umfasst rund 35 Betriebsfallstudien. In der Regel wurden dabei Expertengespräche mit Managementvertretern und Betriebsräten sowie ausführliche und teilweise wiederholte Betriebsbesichtigungen durchgeführt. Dabei handelte es sich um Betriebe der Metall- und Möbelindustrie, Betriebe aus Teilbranchen der Prozessindustrie sowie um Logistikunternehmen, mehrheitlich mittlere und kleinere Unternehmen. Die untersuchten digitalen Systeme sind vielfältig und es finden sich in den Fallstudienbetrieben Lösungen aus sämtlichen Funktionsbereichen digitaler Technologien. Diese reichen von datenbasierten Anwendungen z. B. zur Prozessführung in Echtzeit über Assistenzsysteme zur Kommissionierung und Produktionsplanung und verschiedene Formen von Mensch-Robotik-Kollaborationen sowie weitgehend autonomer Flurfördertechnik bis hin zu fortgeschrittenen cyber-physischen Produktionssystemen. Die digitalen Systeme befinden sich dabei in unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Einige stecken noch in der Pilotierungsphase oder werden als Insellösung betrieben, bei anderen handelt es sich um langfristig angelegte Umsetzungsvorhaben, die teilweise aber aus technischen, ökonomischen oder arbeits- und personalbezogenen Überlegungen eher vorsichtig angegangen werden.
Der Gang der Argumentation und die weitere Gliederung des Buches werden von den oben dargelegten Grundannahmen strukturiert: Im Teil I: Strukturwandel von Arbeit werden der komplexe Zusammenhang zwischen Technik und Arbeit diskutiert, die vorliegenden empirischen Forschungsergebnisse zur absehbaren digitalen Transformation von Arbeit zusammengefasst und Entwicklungsszenarien digitaler Arbeit präsentiert (